Kehlmaier, C., E. Graciá, J. R. Ali, P. D. Campbell, S. D. Chapman, V. Deepak, F. Ihlow, N.-E. Jalil, L. Pierre-Huyet, K. E. Samonds, M. Vences & U. Fritz (2023): Ancient DNA elucidates the lost world of western Indian Ocean giant tortoises and reveals a new extinct species from Madagascar. – Science Advances 9(2): eabq2574.
Uralte DNS enthüllt die verlorengegangene Welt der Riesenschildkröten des westlichen Ozeans und entdeckt dabei eine neue aber ausgestorbene Spezies auf Madagaskar.
Bevor Menschen eintrafen gab es Riesenschildkröten auf zahlreichen Inseln im westlichen Indischen Ozean. Wir kombinierten die Untersuchung von alter DNS mit der Phylogenie und der ursprünglichen Verbreitung und die molekularen Zeitanalysen nach der Radiokarbondatierung und die paleogeographischen Nachweise um die Diversität und Biogeographie der damaligen Zeit zu entschlüsseln. Anhand eine mitogenomischen Zeitabstammungsbaum schließen wir, dass die Vorfahren der ausgestorbenen Landschildkröten der Mascarenen während des Eozäns aus Afrika über heute längst unter den Meeresspiegel liegende Inseln nach Nordostmadagaskar kamen. Von diesen versunkenen Inseln wurden die Mascarenen in sich wiederholenden Schüben immer wieder besiedelt. Eine weitere Ausbreitungswelle die von Afrika ausging ereignete sich im späten Eozän/Oligozän und führte zum Auftreten sehr großen wie auch kleinen Landschildkrötenarten. Zwei Riesenschildkrötenarten und eine großwüchsige Spezies verschwanden vor etwa 1.000 bis 600 Jahren, wobei die letztere hier für die Wissenschaft anhand der nuklearen und mitochondrialen DNS als neu aufgeführt wird. Von Madagaskar aus wurden dann im frühen Pliozän die Granitinseln der Seychellen besiedelt und von dort aus erfolgten sich wiederholende Besiedlungsereignisse während des späten Pleistozäns auf Aldabra. Die Populationen auf den Granitinseln der Seychellen wurden ausgerottet und von Aldabra aus wurden später wieder Exemplare angesiedelt. Unsere Ergebnisse unterstreichen, dass die Integration von alten DNS-Daten in ein multidimensionales Nachweisrahmenwerk substantiell die Aufklärung und das Wissen über die vergangene Biodiversität dieser Inselfauna verbessert.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Die Arbeit beginnt mit einer interessanten Einleitung die insbesondere auf die Rolle der Riesenschildkröten als Megaherbivore mit quantitativen Angaben verweist. Neben der Neubeschreibung einer einstmals auf Madagaskar lebenden Astrochelys rogerbouri n. sp. liefert diese Arbeit einen weiteren deutlichen Beleg dafür wie dynamisch solche Evolutionsprozesse sind und welche Rolle der Mensch beim Abbruch einiger dieser Evolutionslinien dabei spielte (siehe auch Hixon et al., 2022) und wahrscheinlich auch weiterhin spielen wird. Für was uns diese Arbeit aber auch Hinweise liefert ist wohl die Erkenntnis, dass nicht morphologische oder adaptive Phänotypen gleich zu einer molekulargenetisch abgrenzbaren neuen Art führen, was uns auch erkennen lassen sollte, dass Evolutionslinienerhalt wichtiger sein könnte als statisch gedachte Arterhaltung (siehe dazu auch Pennisi, 2016) zumal wir ja bezüglich der Speziationsprozesse auch immer noch am Dazulernen sind, wenn wir mal die Sympatrische-Speziation mitberücksichtigen und auf die neuen Erkenntnisse blicken die in Bezug auf Entstehung „neuer“ proteinkodierender Gene bekannt werden (siehe dazu Pennisi, 2023), die auch dazu beitragen können zu erklären warum wir uns in einigen Eigenschaften die auch zu morphologischen und anderen Veränderungen geführt haben könnten eben doch zu mehr als 0,xx % von unseren Vorfahren unterscheiden. Letzteres zeigt uns aber auch, dass es in Wirklichkeit, in Bezug auf die neuen Erkenntnisse, keine echten genetischen Unterschiede sind, denn Rhesusaffe und Schimpanse haben die gleichen Gene wie der Mensch, der Unterschied besteht nur darin, dass die von diesen Genen kodierte (Langketten) lncRNS bei Rhesus und Schimpanse den Zellkern nicht verlassen kann und deshalb nur beim Menschen im Zytoplasma in Proteine überschrieben werden kann. Dies verdeutlicht auch wieder, dass Phänotypen genauso wie Häuser eben nicht aus Bauplänen bestehen, sondern aus Proteinen und deren Produkten genauso wie Häuser aus Steinen, Holz und Stahl und Glas gebaut werden (Fritz et al., 2007; Renner, 2016 und die dortigen Kommentare). Wir sollten also lernen, dass es neben der reinen Molekulargenetik auch weitere Möglichkeiten gibt Phänotypen, Populationen und vielleicht sogar Arten zu definieren.
Literatur
Fritz, U., A. K. Hundsdörfer, P. Široký, M. Auer, H. Kami, J. Lehmann, L. F. Mazanaeva, O. Türkozan & M. Wink (2007): Phenotypic plasticity leads to incongruence between morphology-based taxonomy and genetic differentiation in western Palaearctic tortoises (Testudo graeca complex; Testudines, Testudinidae). – Amphibia-Reptilia 28(1): 97-121 oder Abstract-Archiv.
Hixon, S. W., A. I. Domic, K. G. Douglass, P. Roberts, L. Eccles, M. Buckley, S. Ivory, S. Noe & D. J. Kennett (2022): Cutmarked bone of drought-tolerant extinct megafauna deposited with traces of fire, human foraging, and introduced animals in SW Madagascar. – Scientific Reports 12(1):18504; DOI: 10.1038/s41598-022-22980-w ➚.
Pennisi, E. (2023): Mutations help genes emerge from aimless DNA: By allowing genetic messages to make proteins, the changes led to key brain genes. – Science 379(6628): 129; DOI: 10.1126/science.adg6277 ➚.
Pennisi, E. (2016): Shaking up the tree of life. – Species were once thought to keep to themselves. Now, hybrids are turning up everywhere, challenging evolutionary theory. – Science 354(6314): 817-821; DOI: 10.1126/science.354.6314.817 ➚.
Renner, S. S. (2016): A Return to Linnaeus's Focus on Diagnosis, Not Description: The Use of DNA Characters in the Formal Naming of Species. – Systematic Biology 65(6): 1085-1095 oder Abstract-Archiv.