Luiselli, L., M. Capula, R. L. Burke, L. Rugiero & D. Capizzi (2014): Sighting frequency decreases over two decades in three populations of Testudo hermanni from central Italy. – Biodiversity and Conservation 23(12): 3091-3100.
Die Häufigkeit der Schildkrötensichtungen nahm während der letzten beiden Jahrzehnte bei drei zentralitalienischen Populationen von Testudo hermanni ab.
DOI: 10.1007/s10531-014-0766-7 ➚
Hier wurde die Häufigkeit von Landschildkrötensichtungen für Testudo hermanni zwischen 1992 und 2013 untersucht. Die Befunde wurden in Bezug auf die Personenstunden standardisiert, die notwendig waren, um im Freiland Schildkröten zu finden, wobei drei unterschiedliche Populationen in verschieden Regionen Zentralitaliens untersucht wurden. Obwohl die Häufigkeit, mit der Schildkröten gefunden wurden, sehr starke Schwankungen zwischen den Jahren und zwischen den Regionen aufwies, ergab sich für alle drei Regionen ein signifikanter Trend für einen Artenrückgang. Dabei zeigten die GLM-Analysen einen ebenfalls signifikanten Zusammenhang zwischen der Untersuchungsregion und dem Untersuchungsjahr. Der rückläufige Trend war in der Region Castel Fusano wesentlich ausgeprägter als in den beiden anderen Regionen, wobei die alljährliche Sichtungshäufigkeit relativ unabhängig vom Suchaufwand für alle drei Regionen war. Diese Trends sprechen klar für Populationsrückgänge in allen drei Regionen, denn es konnten keine anderen plausiblen Erklärungen für die Befunde ausfindig gemacht werden. Ein positiver Zusammenhang zwischen der vorhergehenden totalen Herbstregenmenge mit der Auffindungshäufigkeit von Schildkröten ergab sich nur bei einer Region. Die jährliche Häufigkeit für die Sichtungen von juvenilen Schildkröten schwankte während der Untersuchungsjahre auch nicht signifikant zwischen den drei Regionen, was erkennen lässt, dass keine einfachen Unterschiede (wie hoher Pflanzenbewuchs in feuchteren Jahren) in Bezug auf das Auffinden von Schildkröten die beobachteten Trends erklären. Brände während der Sommermonate sowie das Überwachsen der freien Flächen mit Wald scheinen die Landschildkrötenrückgänge bei zwei der Regionen (Castel Fusano und Oriolo) zu erklären, während bislang keine eindeutigen Gründe für den Artenrückgang in der dritten Region (Manziana) ausgemacht werden konnten.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Eine sehr interessante vergleichende Untersuchung, deren Ergebnisse, ja ich möchte fast schon sagen, natürlich von allen bislang bekannt gewordenen Einflüssen beeinflusst werden, die sich auf die Auffindbarkeit von Schildkröten im Freiland auswirken. Gerade deshalb sind ja die jährlichen Schwankungsbreiten so verständlich, denn selbst wenn man jedes Jahr um die gleiche Zeit solche Begehungen macht, unterscheiden sich die Jahre ja auch oft deutlich in Bezug auf das aktuell vorherrschende Wetter und die klimatischen Bedingungen im allgemeinen. Etwas das uns eigentlich allen bewusst sein sollte, was aber insbesondere bei der Interpretation wissenschaftlicher Freilanddaten oft nachteilig bewertet wird, weil wir in Bezug auf wissenschaftliche Untersuchungen viel zu sehr durch die eigentlich abstrakten, standardisierten (in Bezug auf das wahre Leben wenig authentischen) Laborexperimente geprägt sind, und starke stochastische Schwankungen als Fehler in der Studienplanung und Durchführung werten und deshalb die Daten gern anzweifeln. Das geschieht insbesondere auch wenn die Daten gewisse Kreise in Politik und Wirtschaft, aber auch nicht zuletzt im Artenschutz stören. Denn natürlich mag es selbst im Artenschutz Interessenskonflikte zwischen z. B. Herpetologen und Ornithologen geben, denn so manche schützenswerte Vogelart braucht größere zusammenhängende Waldflächen, während die wärmeliebenden Reptilien vielleicht von mehr Freiflächen und fragmentierteren Waldgebieten profitieren würden. Letzteres kann jeder herpetologisch Interessierte selbst leicht nachvollziehen, denn wir kennen alle das Phänomen, dass auf Kahlschlagflächen im Wald die Blindschleichenpopulation rasch ansteigen, wohingegen sie wenige Jahre nach der Wiederbepflanzung mit zunehmender Baumhöhe und Kronendichte wieder sinkt. Aus diesem Grund finde ich auch hier bei dieser Arbeit die Diskussion der Daten fasst schon interessanter, weil dort eben auf die regionenspezifischen Unterschiede eingegangen wird und die Vielfalt der Einflüsse angesprochen wird (siehe dazu auch für eine globalere Einschätzung Dirzo et al. 2014). Dabei ist es auch interessant zu erfahren, dass eben z. B. zunehmende Bewaldung, die für die Inkubation der Eier notwendigen sonnenbeschienen Freiflächen reduziert und insbesondere flächenmäßig verkleinert, so dass zunehmend mehr Nester auf kleineren Flächen abgelegt werden, was es Nisträubern sehr leicht macht, diese zu plündern. Gerade diese indirekten Zusammenhänge werden ja oft bei solchen Datenanalysen übersehen und nicht in die Planungen beim Arterhaltungsmanagement einbezogen. Hier verweisen die Autoren auch darauf, dass eine Region wahrscheinlich wegen ihres Pilzreichtums von Pilzsammlern sehr stark genutzt wird, wobei sehr wahrscheinlich auch viele Schildkröten für die private Haltung mit eingesammelt werden. Was mir in Bezug auf die Interpretation bei solchen Studien aber immer noch fehlt, sind Angaben zu den angrenzenden Gebieten und deren Nutzung. Denn sowohl in der Landwirtschaft als auch bei der Schädlingsbekämpfung in manchen Waldgebieten werden heute vielfältige Herbizide und Pestizide über Jahre großflächig eingesetzt oder gar mit Hubschraubern – und je nach Windbedingungen wenig selektiv – verbreitet. Bis heute blieben solche Aktionen fast immer unberücksichtigt, insbesondere in Bezug auf ihre Langzeitauswirkungen und in Bezug auf deren Zusammenwirkung. Denn erst in jüngster Zeit beginnt man wirklich der Agrarwirtschaft und Pharmaindustrie zum Trotz solche Analysen durchzuführen (Gill et al. 2012, Henry et al. 2012, Hallmann et al. 2014).
Nichtsdestotrotz macht diese Studie gerade wegen der vielfältigen Einflüsse auch klar, dass es eigentlich nicht die Natur ist, die Schutzziele, Prioritätenlisten oder Managementziele ersinnt, sondern Menschen – und damit wird klar, dass es an uns liegt, uns darüber klar zu werden, was wir wo wollen. Egal wie wir uns entscheiden, wir müssen uns mit Veränderungen in der Umwelt in Bezug auf Fauna und Flora und vielleicht auch mit noch weitreichenderen Veränderungen abfinden. Denn unsere Umwelt ist so gut wie nie – und wenn, dann im geologischen Geschehen betrachtet für nur sehr kurze Zeiträume – konstant zu halten (siehe Reichholf 2008). Die Welt und damit auch die so genannte „Evolution“ werden sich zwangsläufig weiter entwickeln und Veränderungen mit sich bringen. Ja und solange die Lebewesen im Sinne von Konnektivität diesen Veränderungen so lange ausweichen können, bis sie sich den neuen Bedingungen anpassen konnten, so lange werden sie auch in der Lage sein, ihre Evolutionslinie im Sinne von Überleben fortzuführen. Wobei ich im Sinne von Überleben eben nicht notwendigerweise meine, dass sie nach diesen Anpassungen noch so aussehen oder physiologisch angepasst sein müssen, wie wir sie derzeit kennen. Etwas das eigentlich jedem einleuchten sollte. Denn selbst wir haben uns gegenüber unseren direkten Vorfahren wohl deutlich verändert. Wir müssen langsam begreifen, dass selbst Ökosysteme keine über die Zeit stabilen Systeme sind. Vielmehr wird es notwendig sein, dass wir langsam beginnen, uns mit den vielfältigen nichtlinearen Abläufen in unserer Umwelt entsprechend der Dynamischen Systemtheorie zu befassen (siehe Richardson 2013). Verstehen Sie das bitte nicht falsch, indem Sie meinen, dann bräuchte man ja auf gar nichts mehr in der Natur Rücksicht nehmen, denn wenn dem so sei, müsse sich ja zwangsläufig jedes Lebewesen den Veränderungen anpassen. Letztendlich ist das zwar so, aber die Geschwindigkeit und das Ausmaß, mit der wir als Menschen anderen solche Veränderungen abverlangen, bestimmen wir sehr wohl mit. Ebenso ist es unsere Pflicht als einflussreichste Umweltveränderer uns bewusst zu werden, auf was wir achten müssen, wenn wir der Meinung sind, Arten- und Umweltschutz zu berücksichtigen (McCrink-Goode 2014). Wobei uns klar werden sollte, dass gerade die Aufrechterhaltung einer langfristigen Konnektivität in der Landschaft sowie eine Sicherstellung eines Genflusses auf höchstmöglichem Niveau für die meisten Spezies eine unabdingbare Voraussetzung für den Evolutionslinienerhalt sein wird. Dazu gehören aber dann durchaus derzeitige Paradigmenwechsel und Maßnahmen, die heute noch von vielen als falsch betrachtet werden. Kurz gesagt, wir sollten uns über das Wesentliche klar werden und nicht zu vielen alten, falschen Meinungen nachhängen. Siehe dazu auch Kommentar zu Cardinale et al. (2012), Cureton et al. (2013), Lenzen et al. (2012) und Loire et al. (2013).
Literatur
Cardinale, B. J., J. E. Duffy, A. Gonzalez, D. A. Hooper, C. Perrings, P. Venail, A. Narwani, G. M. Mace, D. Tilman, D.A. Wardle, A. P. Kinzig, G. C. Daily, M. Loreau, J. B. Grace, A. Larigauderie, D. S. Srivastava, & S. Naeem (2012): Biodiversity loss and its impact on humanity. – Nature 486(7401): 59-67 oder Abstract-Archiv.
Cureton, J. C., M. Janis, W. I. Lutterschmidt, C. P. Randle, D. C. Ruthven & R. Deaton (2013): Effects of urbanization on genetic diversity, gene flow, and population structure in the ornate box turtle (Terrapene ornata) – Amphibia-Reptilia 35(1): 87-97 oder Abstract-Archiv.
Dirzo R,. H. S. Young, M. Galetti, G. Ceballos, N. J. Isaac & B. Collen (2014): Defaunation in the Anthropocene. – Science 345 (6195): 401-406.
Gill, R. J., O. Ramos-Rodriguez & N. E. Raine (2012): Combined pesticide exposure severely affects individual- and colony-level traits in bees. – Nature 491: 105-108.
Hallmann, C. A., R. P. B., Foppen, C. A. M. van Turnhout, H. De kroon & E. Jongejans (2014): Declines in insectivorous birds are associatedwith high neonicotinoid concentrations. – Nature 511: 341-344.
Henry, M., M. Béguin, F. Requier, O. Rollin,J. F. Odoux, P. Aupinel, J. Aptel, S. Tchamitchian & A. Decourtye (2012): A common pesticide decreases foraging success and survival in honey bees. – Science 336 (6079): 348-350.
Lenzen, M., D. Moran, K. Kanemoto, B. Foran, L. Lobefaro & A. Geschke (2012): International trade drives biodiversity threats indeveloping nations. – Nature 486(7401): 109-112 oder Abstract-Archiv.
Loire, E., Y. Chiari, A. Bernard, V. Cahais, J. Romiguier, B. Nabholz, J. M. Lourenço & N. Galtier (2013): Population genomics of the endangered giant Galapagos tortoise. – Genome Biology 14(12): R136 oder Abstract-Archiv.
McCrink-Goode, M. (2014): Pollution: A global threat. – Environment International 68: 162-170 oder Abstract-Archiv.
Reichholf, J. H. (2008): Stabile Ungleichgewichte. – Frankfurt (Suhrkamp Verlag), 139 S.
Richardson, K. (2013): The evolution of intelligent developmental systems. – S. 127-160 Lerner, R. M. & J. B. Benson (Hrsg.): Embodiment and Epigenesis: Theoretical and methodological Issues in Understanding the Role of Biology within Rational Developmental Systems Part A: Philosophical, Theoretical and Biological Dimensions. – (Elsevier Inc. Academic Press)