Zierschildkröte, Chrysemys picta, im Gartenteich – © Hans-Jürgen Bidmon

Carter - 2019 - 01

Carter, A. L., B. L. Bodensteiner, J. B. Iverson, C. L. Milne-Zelman, T. S. Mitchell, J. M. Refsnider, D. A. Warner & F. J. Janzen (2019): Breadth of the thermal response captures individual and geographic variation in temperature‐dependent sex determination. – Functional Ecology 33(10): 1928-1939.

Die thermische Reaktionsbreite umfasst sowohl individuelle wie geographische Unterschiede bei der temperaturabhängigen Geschlechtsausprägung.

DOI: 10.1111/1365-2435.13410 ➚

Chrysemys picta, – © Hans-Jürgen Bidmon
Zierschildkröte, Chrysemys picta,
© Hans-Jürgen-Bidmon
  1. Die Übersicht darüber wie verschiedene Populationen auf lokale, ökologische Schlüsselumweltbedingungen reagieren, liefern Einsichten über deren Adaptationspotential. Bei Arten mit temperaturabhängiger Geschlechtsausprägung (TSD) haben kurzfristige individuelle Entwicklungsreaktionen auf die Inkubationsbedingungen (Umwelt) langfristige Konsequenzen für die Populationen.
  2. Wir wählten hier einen modellbasierten Untersuchungsansatz, um damit zu analysieren wie sich die Unterschiede bei den physiologischen Komponenten von TSD innerhalb einer Population und im Vergleich zwischen 12 verschiedenen Populationen von Zierschildkröten (Chrysemys picta) auswirken. Wir nutzten dabei Labor- und Feldinkubationsdaten um anhand dieser die Unterschiede bei den Reaktionen auf Temperaturschwankungen innerhalb der Norm zu quantifizieren und zwar sowohl auf Populationsniveau wie auch innerhalb der einzelnen Gelege. Dabei fokussierten wir uns auf die Pivotaltemperatur die zu einem 1:1 Geschlechterverhältnis führt (P) und auf die Spannbreite der Übergangstemperaturen (TRT’s) die zu unterschiedlichen Geschlechterverhältnissen führen.
  3. Wider den theoretischen Erwartungen erklärten sich die zwischen den einzelnen Populationen festgestellten Unterschiede bei der Pivotaltemperatur nicht anhand der geographischen Lage oder anhand der lokalen Temperaturbedingungen. Allerdings innerhalb einiger Populationen unterschied sich die Pivotaltemperatur zwischen den individuellen Gelegen um (etwas mehr als) > 5 °C was anzeigt, dass die Temperatursensitivität der Geschlechtsorganentwicklung zwischen den Nestern von individuellen Weibchen nicht zu vernachlässigenden Schwankungen unterliegt. Zusätzlich ergab sich, dass die TRT’s (Übergangstemperaturspannbreite) bei den Populationen die in niedrigeren Breitengraden lebten breiter war was nahelegt, dass es auch zu Anpassungsreaktion an die lokalen Inkubationsbedingungen kommt.
  4. Unsere Ergebnisse liefern eine Erklärung für die Diskrepanzen in Bezug auf die Ergebnisse die sich aus den früher erfolgten Vergleichen von konstanten experimentellen Inkubationstemperaturen und jenen mit fluktuierenden Inkubationstemperaturen in natürlichen Nestern ergeben haben. Diese Erkenntnisse zeigen, dass noch wesentliche Wissenslücken bezüglich unseres Verständnisses in Bezug auf lokale Anpassungen der TSD gibt und wir zeigen auf, dass es auch noch wichtige Wissenslücken in Bezug zu den traditionellen Laborinkubationsstudien gibt. Das Verstehen der individuellen Variation und der zeitlichen Verläufe der Geschlechtsorgandifferenzierung liefern wahrscheinlich weitaus nützlichere Ansätze für das Verständnis von „lokaler Lebensraumanpassung“ als wir es früher wahrhaben wollten.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Es handelt sich um eine Langzeitauswertung von über Jahre gesammelten Daten zu verschieden Zierschildkrötenpopulationen, die wie ich meine auf bislang einzigartige Weise zeigen, wie sich für eine über ein sehr großes Gebiet verbreitete Art mit temperaturabhängiger Geschlechtsausprägung, dass Hervorbringen eines zum Überleben notwendigen Geschlechterverhältnisses gestaltet. Dabei sollte uns als besonderes Augenmerk auffallen welche Rolle dabei das individuelle Weibchen spielt! Denn wenn es selbst innerhalb ein und derselben Population zwischen den Gelegen der einzelnen Weibchen zu Unterschieden von mehr als 5 °C bei der Pivotaltemperatur kommen kann, dann wird klar, dass man es schwer hat experimentell im Inkubator das Geschlecht per Temperatur festzulegen, denn bei einer mal grob geschätzten Pivotaltemperatur von +28 °C würde ± 5 °C bedeuten, dass man erst oberhalb von +33 °C sicher sein kann, dass aus jedem Gelege nur Weibchen schlüpfen, wobei diese Temperatur für die Gelege bei denen die P bei niedrigeren Temperaturen liegt tödlich sein dürfte. Was aus dieser Studie noch nicht klar ersichtlich ist, was aber auch denkbar wäre, dass ein und dasselbe Weibchen in unterschiedlichen Jahren auch Gelege mit unterschiedlicher P ablegen könnte, denn auch individuelle Reaktionen auf vorausgegangene Umweltbedingen (z.B. warmer oder kalter Winter, kühleres Frühjahr als im Vorjahr etc.) könnten solche individuellen Anpassungen steuern. Ebenso könnten Gelege mit unterschiedlicher Pivotaltemperatur dazu beitragen, dass trotz schwankender Klimabedingungen jedes Weibchen seine Chance auf Nachkommen beiderlei Geschlechts in seiner lokalen Umgebung erhöht. Dazu gibt es bislang kaum ausreichende Untersuchungen und lediglich Daten die man als Anhaltspunkte bezeichnen kann wie Paitz & Bowden (2011) und Warner et al., (2017) die zeigen, dass die Weibchen ihren Eiern unterschiedliche Hormonmengen mit auf den Weg geben können. Ebenso bleibt unklar wie sich epigenetische Einflüsse auswirken, die ja laut Ge et al., (2018) und Radhakrishnan et al., (2018) einen wesentlichen Einfluss auf die Geschlechterdifferenzierung haben (siehe auch die entsprechenden Kommentare). Insofern können wir in Bezug auf die Zucht und die künstliche Inkubation in Brutapparaten nur festhalten, dass es trotz einiger Erfahrung schwierig bleibt das Geschlecht sicher vorherzusagen! Ja, und dann kommen da noch die Fragen zu einer genauen Temperaturmessung am Ei (Tezak et al., 2018) und die Einflüsse der Inkubationssubstrateigenschaften wie z. b. Feuchte und Verdunstungskälte, Gasdurchlässigkeit und Gasaustauch am Ei etc. dazu. Wir sehen also auch hier handelt es sich wieder um einen komplexen Prozess über den wir noch nicht alles wissen. Beruhigend finde ich aber die Erkenntnis, dass diese komplexen Adaptationsmechanismen (Umweltanpassungen) es zumindest dieser Schildkrötenart erlauben mit einem prognostizierten globalen Temperaturanstieg um + 2 °C bezüglich eines ausgeglichenen Geschlechterverhältnisses gelassen umzugehen. Chrysemys picta stirbt wahrscheinlich nur dort aus wo ihre Wohngewässer austrocken nicht aber an der so oft erwähnten negativen Verschiebung eines Geschlechterverhältnisses (siehe auch Kommentar zu Stubbs & Mitchell, 2018).

Literatur

Ge, C., J. Ye, C. Weber, W. Sun, H. Zhang, Y. Zhou, C. Cai, G. Qian & B. Capel (2018): The histone demethylase KDM6B regulates temperature-dependent sex determination in a turtle species. – Science 360(6389): 645-648 oder Abstract-Archiv.

Paitz, R. T. & R. M Bowden (2011): Biological activity of oestradiol sulphate in an oviparous amniote: implications for maternal steroid effects. – Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 278: 2005-2010 oder Abstract-Archiv.

Radhakrishnan, S., R. Literman, J. L. Neuwald & N. Valenzuela (2018): Thermal Response of Epigenetic Genes Informs Turtle Sex Determination with and without Sex Chromosomes. – Sexual Development 12: 308-319 oder Abstract-Archiv.

Stubbs, J. L. & N. J. Mitchell (2018): The Influence of Temperature on Embryonic Respiration, Growth, and Sex Determination in a Western Australian Population of Green Turtles (Chelonia mydas). Physiological and Biochemical Zoology 91(6): 1102-1114 oder Abstract-Archiv.

Tezak, B. M., I. Sifuentes-Romero & J. Wyneken (2018): A new approach for measuring temperature inside turtle eggs. – Journal of Experimental Biology 221(20): jeb188698 oder Abstract-Archiv.

Warner, D. A., T. S. Mitchell, B. L. Bodensteiner & F. J. Janzen (2017): The effect of hormone manipulations on sex ratios varies with environmental conditions in a turtle with temperature-dependent sex determination. – Journal of Experimental Zoology Part A: Ecological and Integrative Physiology 327: 172-181 oder Abstract-Archiv.

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