Zierschildkröte, Chrysemys picta, im Gartenteich – © Hans-Jürgen Bidmon

Roth - 2015 - 01

Roth, T. C. II & A. R. Krochmal (2015): The Role of Age-Specific Learning and Experience for Turtles Navigating a Changing Landscape. – Current Biology 25(3): 333-337.

Die Rolle des altersabhängigen Lernens und der Erfahrung bei Wasserschildkröten, die in sich verändernden Landschaften navigieren.

DOI: 10.1016/j.cub.2014.11.048 ➚

Chrysemys picta, – © Hans-Jürgen Bidmon
Zierschildkröte, Chrysemys picta,
© Hans-Jürgen-Bidmon

Die Stärke, mit der die Umwelt die kognitiven Fähigkeiten von Tieren fordert, kann unterschiedlich sein, ebenso wie die Größenordnung, mit der die Veränderungen in einer bestimmten Umwelt auftreten. Sich sehr schnell ereignende Habitatveränderungen können die zur Verfügung stehenden Ressourcen einschränken wie zum Beispiel Energie, Wasser, Nistplätze und Unterschlupfe. Die Reaktionen der betroffenen Tiere auf solche Situationen liefern Erkenntnisse über deren Mechanismen und kognitive Fähigkeiten und lassen Schlussfolgerungen zu über deren Verhalten und deren Adaptationsgrad. Wir testeten hier die Hypothese, die besagt, dass Lernen eine Rolle bei der Navigation von Zierschildkröten (Chrysemys picta) innerhalb eines Modellszenarios für Umweltveränderungen spielt. Wir überwachten dazu erfahrene und naive (unerfahrene) Schildkröten unterschiedlicher Entwicklungsstadien aus zwei unterschiedlichen Populationen, während sie nach einem neuen Lebensraum suchten, nachdem ihr Teich zerstört worden war. Unsere Daten zeigen klar, dass die Navigationsgeschwindigkeit zum Teil durch die Erfahrung beeinflusst wird, die sie während einer bestimmten kritischen Lernphase machten. Ortsansässige adulte Schildkröten benutzten spezifische Wanderrouten mit extremer Genauigkeit, während Schildkröten, die vorher als Fremde dorthin umgesiedelt worden waren, es nicht schafften, ein neues Wohngewässer in dieser Landschaft zu finden. Naive, unerfahrene Jungschildröten (1-3 Jahre alt) aus beiden Populationen benutzten dieselben Abwanderwege, wie die erfahrenen ortsansässigen adulten Schildkröten, allerdings war dieses Nachfolgeverhalten bei 4 Jahre alten Schildkröten nicht mehr zu beobachten. Wir benutzten Laborverhaltenstests, um die möglichen Orientierungssignale für diese präzise Navigationsfähigkeit zu finden. Dabei konnten wir zeigen, dass die Schildkröten auf die Manipulationen der lokalen Verhältnisse des Ultravioletten-Lichts reagierten, aber nicht auf olfaktorische Umweltsignale. Diese Ergebnisse liefern die ersten Beweise dafür, dass das Lernen während einer spezifischen Periode für diese Tiere wichtig und dafür verantwortlich ist, wie sie sich bei Veränderungen in ihrer Umwelt verhalten. Unsere Arbeit zeigt, dass es notwendig ist, vergleichend die Lernfähigkeit zur Navigation und Orientierung näher zu untersuchen, insbesondere in Bezug auf die Weite des kritischen Zeitfensters für das Lernen innerhalb der verschiedenen Wirbeltiere.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Das ist eigentlich die beste Arbeit, die ich seit langem zu diesem Thema gelesen habe, insbesondere weil hier die Tiere nicht in einer standardisierten Testarena im Labor, sondern in einer echten natürlichen Umwelt untersucht wurden. Dass die Vorannahmen, die im ersten Drittel des Abstracts angeführt werden valide sind, geht aus der Literatur hervor, die ich aber hier des Umfangs wegen weggelassen habe. Hier sollte sich jeder Interessierte die Originalarbeit einschließlich der Supplements (Zusatzinformationen) ansehen. Damit belegt die Arbeit für Schildkröten gleich zwei erst kürzlich ausführlicher diskutierte Aspekte (Bidmon. 2014a,b) nämlich zum einen ein eindrucksvolles Beispiel für eine gravierende Umweltveränderung und zum anderen ein Beispiel für die Lernfähigkeit, wobei mich diese aufgezeigte Präzision bei der Einhaltung der Wanderrouten der adulten erfahrenen Schildkröten wirklich überraschte. Wenn diese Schildkröten, nachdem ihr Heimatgewässer ausgetrocknet war, zum nächsten permanenten Gewässer abwanderten (ca. 850 m weit), betrugen die Abweichungen von der einmal gelernten Wanderstrecke über die 5 Untersuchungsjahre hinweg nicht mehr als maximal 3,1 m. Überlegen Sie, welche kognitive Orientierungsleistung Sie erbringen müssten, wenn Sie bei einem vergleichbar langen Querfeldeinspaziergang (z. B. beim Pilzesuchen) ihren Schüssel verloren hätten und müssten ihn suchen. Mir ist sowas schon passiert und ich weiß wie schwer es fällt, genau den Weg zurückzuverfolgen, obwohl man, wenn man es sofort macht, ja oft noch die Spur im Gras oder Laub zum Teil erkennen kann, wie in meinem Fall, wo es sich bestenfalls um zwei Stunden handelte. Diese Schildkröten unternehmen ein solches Unterfangen aber meist nur ein- bis zweimal im Jahr (hin und zurück), nämlich im Sommer, wenn ihr Wohngewässer austrocknet. Dass dazu eine extrem gute Gedächtnisleistung notwendig ist, wird auch klar, denn keine Schildkröte, die vorher aus einem etwa 18 km entfernt gelegen Wohngewässer in dieses austrocknende Gewässers umgesiedelt worden war und die älter als 3 Jahre war, schaffte es, ein neues permanentes Wohngewässer zu finden. Diese Schildkröten waren völlig orientierungslos und wurden nach 22 Tagen vergeblicher diffuser Suche, wobei sie auch kein Heimfindeverhalten (Homing) in Richtung ihres 18 km entfernten Heimatgewässers zeigten, in Letzteres zurückgebracht. Ortsansässige Schildkröten waren im Gegensatz dazu in der Lage, das ihnen bekannte permanente Gewässer innerhalb von durchschnittlich 16 Stunden zu erreichen. Anscheinend nutzen sie zur Orientierung das vor Ort vorherrschende UV-Licht bzw. dessen Einfallsrichtung im Tagesverlauf oder in Kombination mit dem Magnetfeld oder den „Stresshormonfreien“ Geruch adulter erfahrener Schildkröten. Hier wird auch klar, warum Flussschildkröten, die im Wasser wandern, per Lautäußerungen mit dem Nachwuchs kommunizieren (Ferrara et al. 2013, 2014). Denn im trüben Wasser wird das Licht zu diffus gestreut, um zur Orientierung genutzt zu werden, und selbst im klaren Wasser wird das Licht beim Eintritt ins Wasser gebrochen und das UV-Licht könnte bestenfalls noch in den obersten 40 cm, wenn überhaupt noch zur Orientierung genutzt werden. Zudem ist interessant zu sehen, dass junge Schildkröten egal ob umgesiedelt oder ortsansässig, den Weg zu den permanenten Gewässer auch finden und erlernen. Derzeit ist aber nicht klar wie. Es wäre möglich, dass sie dazu Umweltsignale nutzen, die ältere Tiere nicht mehr nutzen können, das würde bedeuten, dass sie als Jungtiere anfänglich andere Signale zur Orientierung nutzen können als die älteren und größeren Schildkröten. Es könnte auch sein, dass sie dabei dem Geruch adulter erfahrener Schildkröten folgen. In dem Fall bleibt aber unklar, warum das auch die jungen umgesiedelten Schildkröten tun, denn die könnten ja auch den ziellos umhersuchenden umgesiedelten adulten Schildkröten aus ihrem Ursprungsteich folgen. Diese Geruchsorientierung würde für die Jungen somit nur Sinn ergeben wenn sie riechen könnten, welche der adulten Tiere die erfahrenen sind. Letzteres wäre denkbar, wenn man von der Annahme ausgeht, dass die orientierungslosen umgesiedelten adulten Schildkröten durch die Situation so gestresst sind, dass sie einen stressassoziierten abweisenden Geruch hätten, den die Jungschildkröten als abstoßend empfinden, so dass sie sich letztendlich ausschließlich an den erfahren ortsansässigen Tieren orientieren. Dass das der Fall sein könnte, ergibt sich vielleicht aus der bislang bekannten Erkenntnis, dass zum Beispiel Weibchen bei der durchaus beschwerlichen Wanderung zu den terrestrischen Nistplätzen auch keine erhöhten Stresshormontiter aufweisen (Jessop & Hamann 2004), während Rotwangen-Schmuckschildkröten, die in experimentelle Testteiche umgesetzt worden waren, bei deren Austrocknung durchaus Stresshormone produzieren (Cash & Holberton 2005). Diese Fragen müssen aber noch geklärt werden und zwar im Freiland, denn unter Laborbedingungen in einer künstlichen Testarena kann man diese Tiere sicher nicht testen, da sie dies ganz gewiss als Stress empfinden würden, dazu bräuchte man dann wirklich in einer artifiziellen Testumgebung aufgewachsene handzahme Schildkröten.
Zudem verdeutlicht diese Studie, dass man anscheinend bestimmte adulte Wasserschildkröten nicht so einfach erfolgreich umsiedeln kann, denn gerade in sehr ariden Trockenlandschaften, wo die Tiere darauf angewiesen sind, im Jahresverlauf die lokalen Wohngewässer zu verlassen, um neue zu suchen oder um Stellen zu finden, wo sie ohne auszutrocknen, eine Trockenruhe geschützt verbringen können, sind sie auf ihr ortsgebundenes Wissen (Erfahrung, Langzeitgedächtnis) angewiesen, um überhaupt überleben zu können (siehe auch Bowne et al. 2006, Roe & Georges 2008 oder auch Bidmon 2014c, Abb. 16 Legende).
An dieser Studie sieht man aber auch eines unserer negativen gesellschaftlichen Probleme in der Wissenschaft, denn wirklich interessierte Studenten sind in unserem Ausbildungssystem zu solchen Arbeiten gar nicht mehr in der Lage. Unsere Politiker reisen zwar zu Kongressen und predigen den Biodiversitätserhalt, aber die dazu notwendige Grundlagenforschung und Ausbildung dazu vernachlässigen sie sträflich. Denn eine Bachelorarbeit ist in der Regel auf drei Monate beschränkt und eine Masterarbeit auf sechs, also für solche Arbeit völlig ungeeignet. Vielleicht mit ein Grund, warum wir Biodiversität an immer niedrigeren Prozentzahlen an Abweichungen im genetischen Code festmachen, der sich schnell im Labor feststellen lässt. Aber letztendlich sollte allen klar sein, dass damit nichts erhalten werden kann, denn dazu muss man die Lebensweise und essentiellen Überlebensnotwendigkeiten dieser Populationen, Unterarten oder angeblicher Arten kennen und ihre Abhängigkeit von der Gewässervielfalt und der Konnektivität (siehe Bowne et al. 2006, Lee 2011) kennen. Und wie wir hier praktisch sehen sind dazu Langzeitstudien fast unabdingbar. Wir bekommen seit der Einschulung in die Grundschule gepredigt, dass jedes Kind während der Ausbildung individuell zu fördern, ist und hinterher, wenn wir diese Individuen gefördert und ausgebildet haben, fangen wir an, sie in feste für alle geltende gleiche Schemata zu zwingen, wo wir den Absolventen in Feldökologie die gleichen Zeiten zuweisen wie dem Laborbiologen, wobei doch jeder selbst erkennen kann, dass im Freiland allein ein Jahreszyklus aus vier Jahreszeiten mit a drei Monaten besteht. Somit ist es nicht verwunderlich, dass solche guten aussagekräftigen Studien immer seltener werden, und wir in der Regel in diesen Disziplinen eine formale Ausbildung vorschreiben, die schizophrener Weise auf das hinausläuft, was zu unserem literarisch überlieferten historischen Weltkulturerbe zählt und dort schon angemahnt wurde und wo es nach den Worten (Gleichnis) des chinesischen Philosophen Chuang-Tzu (oder besser Kuo Hsiang), der ca. 300 vor Chr. lebte, heißt, wie der Übersetzung von Watson (1964) zu entnehmen ist: „Jo of the North Sea said, You can’t discuss the ocean with a well frog – he’s limited by the space he lives in. You can’t discuss ice with a summer insect – he’s bound to a single season. You can’t discuss the Way with a cramped scholar – he’s shackled by his doctrines.“ (Jo vom Nordmeer sagte: Du kannst nicht über den Ozean mit einem in einer Quelle lebenden Frosch diskutieren – Er ist durch den Platz, in dem er lebt, zu beschränkt. Du kannst nicht über das Eis mit einem Sommerinsekt diskutieren – es kennt nur eine einzige Jahreszeit. Du kannst nicht über den „Rechten Weg“ mit einem beengt denkenden Schüler diskutieren – Er ist zu gefesselt in seinen Doktrinen). Was wir aber letztendlich daraus selbst als Gesellschaft lernen sollten ist doch, dass wir, was die belebte Umwelt anbelangt, die Fehler der Vergangenheit hätten längst überwunden haben könnten, wenn wir darauf mehr geachtet hätten!

Literatur

Bidmon, H.-J. (2014a): Kommentar zu: Golubović, A., M. Andjelkovic, D. Arsovski, A. Vujovic, V. Ikovic, S. Djordjevic & L. Tomovic (2014): Skills or strength-how tortoises cope with dense vegetation? – Acta Ethologica 17(3): 141-147 oder Abstract-Archiv.

Bidmon, H.-J. (2014b): Kommentar zu: Wilkinson, A. & L. Huber (2012): Cold-Blooded Cognition: Reptilian Cognitive Abilities. – S. 129-143 in: Vonk, J. & T. K. Shackelford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Comparative Evolutionary Psychology. – Oxford University Press 129-143 oder Abstract-Archiv.

Bidmon, H.-J. (2014c): Schweizer Regierung unterstützt großzügig den Infrastrukturaufbau der GEA Chelonia Foundation in Bulgarien. – Schildkröten im Fokus Online 2014(2): 1-12.

Bowne, D. R., M. A. Bowers & J. E. Hines (2006): Connectivity in an agricultural landscape as reflected by interpond movements of a freshwater turtle. – Conservation Biology 20(3): 780-791 oder Abstract-Archiv.

Cash, W. B. & R. L. Holberton (2005): Endocrine and behavioral response to a decline in habitat quality: effects of pond drying on the slider turtle, Trachemys scripta. – Journal of Experimental Zoology Part A Comparative Experimental Biology 303(10): 872-879 oder Abstract-Archiv.

Ferrara, C. R., R. C. Vogt & R. S. Sousa-Lima (2013): Turtle Vocalizations as the First Evidence of Posthatching Parental Care in Chelonians. – Journal of Comparative Psychology 127(1): 24-32 oder Abstract-Archiv.

Ferrara, C. R., R. C. Vogt, R. S. Sousa-Lima, B. M. R. Tardio, & V. C. Diniz Bernardes (2014): Sound communication and social behavior in an Amazonian river turtle (Podocnemis expansa). – Herpetologica 70(2): 149-156 oder Abstract-Archiv.

Jessop, T. S. & M. Hamann (2004): Hormonal and metabolic responses to nesting activities in the green turtle, Chelonia mydas. – Journal of Experimental Marine Biology and Ecology 308(2): 253-267 oder Abstract-Archiv.

Lee, H. (2011): Climate change, connectivity, and conservation success. – Conservation Biology 25(6): 1139-1142 oder Abstract-Archiv.

Roe, J. H., A. Georges & B. Green (2008): Energy and Water Flux during Terrestrial Estivation and Overland Movement in a Freshwater Turtle. – Physiological and Biochemical Zoology 81(5): 570-583 oder Abstract-Archiv.

Roe, J. H. & A. Georges (2008): Maintenance of variable responses for coping with wetland drying in freshwater turtles. – Ecology 89(2): 485-494 oder Abstract-Archiv.

Watson, B. (1964): Chuang Tzu. Basic writings of Mo Tzu, Hsün Tzu, and Han Fei Tzu translated by Burton Watson. – Columbia University Press 1964. UNESCO Collection of representative works. Chinese Series.

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