Schnappschildkröte, Chelydra serpentina, – © Hans-Juergen-Bidmon

Leivesley - 2022 - 01

Leivesley, J. A., E. G. Nancekivell, R. J. Brooks, J.D. Litzgus & N. Rollinson (2022): Long-Term Resilience of Primary Sex Ratios in a Species with Temperature-Dependent Sex Determination after Decades of Climate Warming. – The American Naturalist 200(4): 532-543.

Langzeitwiderstandsfähigkeit der primären Geschlechterverhältnisse bei einer Spezies mit temperaturabhängiger Geschlechtsausprägung nach mehreren Dekaden der Klimaerwärmung.

DOI: 10.1086/720621 ➚

Schnappschildkröte, Chelydra serpentina, – © Hans-Jürgen Bidmon
Schnappschildkröte,
Chelydra serpentina,
© Hans-Jürgen-Bidmon

Spezies mit umweltabhängiger Geschlechtsausprägung (ESD) haben sich über weitzurückreichende Zeiträume erhalten und zwar obwohl sich während dieser Perioden massive Umweltveränderungen in den geologischen Abfolgen ereigneten. Das Verständnis dafür wie Arten mit temperaturabhängiger Geschlechtsausprägung (TSD) einer Form von ESD unter diesen Bedingungen diese Zeiträume mit dramatischen Klimaveränderungen überstehen konnten ist zur Einschätzung der Auswirkungen für die derzeitige Klimakrise sehr wichtig, da hochgradig veränderte Geschlechterverhältnisse mit einem damit einhergehenden Aussterberisiko vorhergesagt werden. Seit 1982 untersuchten wir die primären Geschlechterverhältnisse bei einem Reptil mit TSD, der Schnappschildkröte (Chelydra serpentina). Die primären, ursprünglichen Geschlechterverhältnisse blieben dabei über die Zeit unverändert obwohl es während dieser Zeit zu einer Umwelterwärmung kam. Die Widerstandsfähigkeit des ursprünglichen Geschlechterverhältnisses erklärte sich durch einen sogenannten Portfolioeffekt (Bestandseffekt) der durch bemerkenswert hohe intraannuelle Temperaturschwankungen bei den Geschlechterverhältnissen der einzelnen Nester zustande kam was letztendlich zu einem über das Jahr gesehen relativ konsistent bleibenden Geschlechterverhältnis führte. Intraannuelle Schwankungen bei den Geschlechterverhältnisraten zwischen den einzelnen Nestern ergaben sich durch die unterschiedliche Tiefe mit der die Nester angelegt wurden, gekoppelt mit der großen Gelegegröße wodurch es zur Ausbildung von Temperaturgradienten innerhalb der Nester kam was wiederum zu gemischten Geschlechterverhältnissen innerhalb der Gelege führte. Zudem fanden wir, dass sowohl die lokale wie auch die globale Erhöhung der nächtlichen Lufttemperatur mehr zur Erwärmung beitrugen als die täglichen am Tage sich einstellenden Maximaltemperaturen, wobei aber die Entwicklungsrate (Geschwindigkeit) wesentlich deutlicher durch diese am Tage erfolgenden Temperaturmaxima beeinflusst wurde was wiederum zusätzlich zur Widerstandfähigkeit gegenüber der globalen Erwärmung beitrug. Unsere Studie lässt den Schluss zu, dass einige Arten mit TSD gegenüber einer globalen Erwärmung eine hohe Widerstandfähigkeit aufweisen und somit liefert diese Studie auch ein Beispiel dafür wie ESD unter sich verändernden Klimabedingungen erhalten bleiben kann.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Die Schnappschildkröte, Chelydra serpentina hat einen TSD-II-Typ der Geschlechtsausprägung bei dem sowohl unter sehr tiefen wie auch sehr hohen Temperaturen Weibchen entstehen und bei mittleren Inkubationstemperaturen sich Männchen entwickeln. Insofern hat sie den gleichen TSD-Typ wie die Krokodile und Alligatoren bei denen sich aber bei den beiden Temperaturextremen Männchen entwickeln. Insofern wäre es auch hier sowie auch insgesamt für die Schildkrötenarten mit TSD bzw. ESD einmal angezeigt ähnliche Untersuchen durchzuführen wie sie von Bock et al., (2022) für Alligatoren durchgeführt wurden, denn es wäre sicherlich sehr interessant zu sehen welchen Beitrag auch bei ihnen die Epigenetik dabei leistet. Zudem würde es das Verständnis für die temperaturabhängige Geschlechtsausprägung auch wesentlich fördern, wenn man mit dieser Methode bei der man durch die sequenzielle Analyse bestimmter DNS-Methylierungsmuster den Inkubationstemperaturverlauf rückwirkend analysieren kann auch interessant zu erforschen für wie lange nach dem Schlupf der Jungschildkröten man das tun könnte? Letzteres würde gerade für die Charakterisierung der Lebensgeschichte der einzelnen Phänotypen die dabei entstehen können sehr viel weiterhelfen. Ebenso scheint diese Arbeit zumindest für die Schnappschildkröte bezüglich der Embryoentwicklungsbeschleunigung auf ähnliches zu verweisen wie es von Du & Shine (2010) für eine Echsenspezies beschrieben wurde, da die am Tage erfolgenden Temperaturmaxima eine Entwicklungsbeschleunigung bewirken.
Aber diese in Bezug auf die Anpassung an den Klimawandel zuversichtlich stimmende Arbeit liefert noch mehr an Erkenntnis! Sie ist wieder einmal ein Paradebeispiel dafür wie Gene, Epigenetik und Kognition Hand in Hand dazu beitragen, dass eine Spezies durch entsprechende Anpassungsstrategien überlebensfähig bleiben kann. Für alle denen das nicht gleich klar wird verweise ich nur auf die kognitive Leistung die von den Weibchen in Bezug auf die Nistplatzauswahl und in Bezug auf die Tiefe bei der die Eier abgelegt werden in Abhängigkeit zur jeweiligen Umwelttemperatur und vielleicht auch Jahreszeit erbracht wird (siehe dazu auch Refsnider et al., 2022 und den dortigen Kommentar). Dass sich diese Kognitionsleistung vielleicht auch bei der Haltung in menschlicher Obhut manchmal beobachten lässt, schließe ich daraus, dass zum Beispiel Strahlenschildkröten im Sommer im Außengehege oft mehrere Probenester anlegen ehe sie den Nistplatz für das aktuelle Gelege dann auswählen. Dabei konnte ich beobachten, dass ein und dasselbe Weibchen einen Nistversuch abbrach und an anderer Stelle ein Gelege mit 7 Eiern absetzte. Bei der nächsten Eiablage einige Wochen später suchte das Weibchen den zuerst gewählten Nistplatz wieder auf der durch die vorher gegrabene Vertiefung noch erkennbar war und dieses Mal legte sie dort ein Gelege mit kompletten Nisthöhlenverschluss ab. Allerdings dieses Mal mit nur zwei wenn auch relativ großen Eiern. Als ich dieses aus nur 2 Eiern bestehende Gelege ausgrub stellte ich fest, dass genau unter den Eiern eine dicke Wurzel eines im Gehege stehenden Hibiskusstrauchs verlief, sodass das erste Gelege welches ja aus 7 Eiern bestand dort nie hätte Platz finden können, so wie die 2 Eier des kleineren Geleges. Selbst, wenn dies als Einzelbeobachtung kein wissenschaftlicher Beweis ist, so stellt sich doch die Frage können Schildkrötenweibchen rechnen oder haben sie eine räumliche Vorstellung davon wie groß und voluminös eine Nisthöhle zur Ablage einer bestimmten Gelegegröße oder Anzahl an Eiern sein muss? Wenn sie das könnten müsste man dann nicht davon ausgehen, dass sie sich ihrer Situation bewusst sind und wäre dann nicht auch die entsprechende Entscheidung für den geeigneten Nistplatz eine „freie Willensentscheidung“ im Sinne von „Conciousness“ (siehe Yurchenko, 2022 oder Szabo et al., 2020 und den dortigen Kommentar)? Natur ist vielfältig und überrascht manchmal auf eigenartige und nie vermutete Weise (siehe dazu auch z. B. Kuchling & Hofmeyer, 2022)! Letzteres sehen wir allein schon an der Artenvielfalt der verschiedensten Phyla und ich habe so meine Zweifel, dass wir jemals in der Lage sein werden alles nur mit „exakter Wissenschaftlichkeit“ zu analysieren und zu erfassen. Aber die Erkenntnisse die wir durch die Wissenschaft einigermaßen aufklären konnten sollten uns dazu veranlassen wesentlich genauer hinzuschauen und zu beobachten und zwar allein schon deshalb, damit wir die großen Fehler der Vergangenheit nicht ständig zu wiederholen (siehe Kommentare zu Alcott et al., 2020; Roth et al., 2019 und die Kommentare zur dort angeführten Literatur) und um aus dem was wir beobachten können nach Möglichkeit auch die richtigen Schlüsse zu ziehen.
In diesem Sinne sollte diese Abstractauswahl zum Jahresabschluss durchaus mal wieder zum Nachdenken und philosophieren Anlass geben, damit wir uns auch weiterhin an unserem Hobby sowie der Natur als Ganzes auf interessante Weise erfreuen können. Ihnen allen damit gesegnete und besinnliche Festtage.

Literatur

Alcott, D., M. Long & T. Castro-Santos (2020): Wait and snap: eastern snapping turtles (Chelydra serpentine) prey on migratory fish at road-stream crossing culverts. – Biology Letters 16(9): 20200218 oder Abstract-Archiv.

Bock, S. L., C. R. Smaga, J. A. McCoy & B. B. Parrott (2022): Genome-wide DNA methylation patterns harbour signatures of hatchling sex and past incubation temperature in a species with environmental sex determination. – Molecular Ecology 31(21): 5487-5505 oder Abstract-Archiv.

Du, W. G. & R. Shine (2010): Why do the eggs of lizards (Bassiana duperreyi: Scincidae) hatch sooner if incubated at fluctuating rather than constant temperatures?. – Biological Journal of the Linnean Society 101(3): 642-650 oder Abstract-Archiv.

Kuchling, G. & M. D. Hofmeyer (2022): Too Hot to Nest? In a Hot Summer the Tortoise Chersina angulata Can Switch From Nesting to Facultative Viviparity. – Frontiers in Ecology and Evolution 9 oder Abstract-Archiv.

Refsnider, J. M., S. E. Carter, A. Diaz, A. C. Hulbert, G. R. Kramer, P. Madden & H. M. Streby (2022): Macro- and Microhabitat Predictors of Nest Success and Hatchling Survival in Eastern Box Turtles (Terrapene carolina carolina) and Spotted Turtles (Clemmys guttata) in Oak Savanna Landscapes. – Frontiers in Ecology and Evolution 9: 788025 oder Abstract-Archiv.

Roth, T. C. II, A. R. Krochmal & L. D. LaDage (2019): Reptilian Cognition: A More Complex Picture via Integration of Neurological Mechanisms, Behavioral Constraints, and Evolutionary Context. – Bioessays 41(8): e1900033 oder Abstract-Archiv.

Szabo, B., D. W. A. Noble & M. J. Whiting (2020): Learning in non-avian reptiles 40 years on: advances and promising new directions. – Biological reviews of the Cambridge Philosophical Society 96(2): 331-356 oder Abstract-Archiv.

Yurchenko, S. B. (2022): From the origins of the stream of consciousness and its neural correlates. – Frontiers in Integrative Neuroscience 16: 928978; DOI 10.3389/fnint.2022928978 ➚.

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