Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis, – © Hans-Jürgen Bidmon
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Ratnikov - 2024 – 01

Ratnikov, V. Y. (2024): Do northern species of amphibians and reptiles of Eurasia need southern refugia? – Biological Journal of the Linnean Society 141(2): 169-183.

Brauchen im Norden lebende eurasische Amphibien- und Reptilienarten südliche Rückzugsrefugien?

DOI: 10.1093/biolinnean/blad030 ➚

Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis, – © Hans-Jürgen-Bidmon
Europäische Sumpfschildkröte,
Emys orbicularis,
© Hans-Jürgen-Bidmon

Ich unterstütze hier nicht die moderne Sichtweise, dass südliche Rückzugsrefugien die nördlicher lebenden Arten während der Eiszeiten beherbergten. Die vorliegende Arbeit liefert Argumente, die diese traditionelle Sichtweise zurückweisen. Die nördlichen Arten zogen sich nicht in die südlichen Refugien zurück und deshalb entwickelten sich in der periglazialen Hyperzone neue Formen (Haplotypen). Ich beschreibe hier, wie diese Prozesse sehr wahrscheinlich abgelaufen sind.

Grüne Meeresschildkröte, Chelonia mydas, – © Hans-Jürgen Bidmon
Grüne Meeresschildkröte,
Chelonia mydas,
© Hans-Jürgen Bidmon

Kommentar von H.-J. Bidmon

Hier wird eine interessante und durchaus gut durchdachte Sichtweise geschildert, die vor allem deutlich hervorhebt, dass Tiere, die einen bestimmten Lebensraum in angepasster Weise besiedeln, diesen nicht einfach verlassen können, sondern wenn dann mit dem Ökosystem wandern müssten. Da aber während der Eiszeiten (auch kleine kürzere Phasen) oft schneller auftreten und dazu führen, dass davon weniger die Temperatur als die Feuchtigkeit betroffen sind, werden die betroffenen besiedelten Lebensräume zu trocken bzw. während der Warmphasen schnell zu feucht, was sich vordergründig erstmal auf die Vegetation auswirkt. Zudem hätten zum Beispiel an nördliche Wälder angepasste Spezies große trockene Steppenareale und Gebirgszüge dabei überwinden müssen, was auch unter den geologischen und klimatologischen Gegebenheiten nicht so möglich gewesen wäre. Deshalb geht der Autor davon aus, dass die Tiere, die dort lebten, eher ausgestorben sind und die Gebiete dann jeweils von neuen Formen besiedelt wurden.
Zudem bringt er noch eine sehr interessante Sichtweise zum Ausdruck, die davon ausgeht, dass es ja keine unbesiedelten Refugien gibt, sodass die Tiere, die sich in solche Refugien zurückziehen, auf Konkurrenz treffen, gegen die sie sich durchsetzen müssten. Andererseits, wenn es manche doch schaffen würden müsste man eigentlich noch mehr Introgression sprich Hybridisierung nachweisen können als das heute bekannt ist. Ja und er bringt dazu auch einige gute Beispiele von Arten mit großen Verbreitungsgebieten wie z.B. der Kreuzotter. Aber auch
Emys orbicularis wäre von solchen Szenarien betroffen.
Man wird sehen, was die moderne molekulare Taxonomie dazu beitragen kann, diese Vorgänge noch besser aufzuklären. Für meinen Teil denke ich, dass der Autor gute Argumente hat, dass man aber auch sehen muss, dass sich für die damals schon im Süden lebenden Arten auch die Umweltbedingungen zu verschieben begannen und auch ihnen Adaptationsvermögen abverlangt wurde, sodass es nördliche Zuwanderer vielleicht leichter hatten, sich in deren Lebensräumen auszubreiten. Das Argument, dass man dann noch mehr Introgression beobachten können, sollte, hängt natürlich auch von der Überlebensfähigkeit solcher Populationen ab und wie schnell sie sich vielleicht wieder trennen. Was ich aber im Hinblick auf die derzeitigen Klimaveränderungen interessant finde, ist doch die Frage, ob man die Richtigkeit seiner Sichtweise diesbzgl. heute schon an den Küsten Südamerikas beobachten kann, wo ja seit nur wenigen zurückliegenden Jahrzehnten z.B. bei den verschiedensten Meeresschildkrötenarten eine zunehmende Hybridisierung beobachtet wird. Auch dort sind es wohl nach den derzeitigen Erkenntnissen die Nahrungsgründe, in denen sich die unterschiedlichen Arten begegnen und verpaaren (Machado et al., 2023). Da
Chelonia mydas dabei auch als Herbivore angesehen wird, könnten auch da Verschiebungen bei der Meeresvegetation (Seegras, Algenarten) solche Lebensraumveränderungen andeuten, die es den Meeresschildkröten in ihrem wesentlich unbegrenzteren Gesamtlebensraum ermöglicht solchen Vegetationsverschiebungen zu folgen, da sie dabei keine Trockengebiete oder Gebirge überqueren müssten, da ihr Lebensraum ja nur durch unterschiedlich temperierte und unterschiedlich starke Strömungen strukturiert wird (Van der Zee et al., 2021).

Literatur

Machado, C. R. D., M. Azambuja, C. Domit, G. Fraga da Fonseca, L. Glugoski, C. Borges Gazolla, R. Bonfim de Almeida, M. B. Pucci, T. Torres Pires, V. Nogaroto & M. R. Vicari (2023): Integrating morphological, molecular and cytogenetic data for F2 sea turtle hybrids diagnosis revealed balanced chromosomal sets. – Journal of Evolutionary Biology 36(11): 1595–1608 oder Abstract-Archiv.

Van der Zee, J. P., M. J. A. Christianen, M. Bérubé, M. Nava, K. Shut, F. Humber, A. Alfaro-Núñez, L. E. Becking & P. J. Palsbøll (2021): The population genomic structure of green turtles (Chelonia mydas) suggests a warm-water corridor for tropical marine fauna between the Atlantic and Indian oceans during the last interglacial. – Heredity 127: 510–521 oder Abstract-Archiv.

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