Landkarten-Höckerschildkröte, Graptemys geographica,– © Grégory Bulté

Freedberg - 2012 - 01

Freedberg, S. & E. M. Myers (2012): Cytonuclear equilibrium following interspecific introgression in a turtle lacking sex chromosomes. – Biological Journal of The Linnean Society 106(2): 405-417.

Einstellung eines zytonukleären Gleichgewichts nach erfolgter interspezifischer Introgression bei einer Schildkröte, der Geschlechtschromosomen fehlen.

DOI: 10.1111/j.1095-8312.2012.01862.x ➚

Falsche Landkarten-Höckerschildkröte, Graptemys pseudogeographica, – © Hans-Jürgen Bidmon
Falsche Landkarten-Höckerschildkröte,
Graptemys pseudogeographica,
© Hans-Jürgen Bidmon

Wenn es zum Verlust von Reproduktionsbarrieren kommt (also wenn abgrenzende Landschaftselemente wie Berge verschwinden oder Flüsse durch Kanäle verbunden werden), können interspezifischen Hybridisierung folgen, die dazu führt, dass ein Genfluss zwischen Spezies auftritt, die sich während ihrer Evolution zu distinkten Arten ausdifferenziert hatten. Das Studium des Schicksals der bei dieser Introgression (Einführung neuen genetischen Materials) neu eingebrachten genetischen Elemente kann wertvolle Erkenntnisse über die Faktoren liefern, die zu einer reproduktiven Isolation führen oder führten. Wir identifizierten eine Population der Falschen Landkartenschildkröte (Graptemys pseudogeographica), die in der zurückliegend Epoche Hybriden mit der Echten Landkartenschildkröte (Graptemys geographica) gebildet hatte, jedoch im Anschluss daran wieder für mehrere Generation durch einzigartige geologische Veränderungen isoliert worden war. Obwohl viele Studien zum Schluss kommen, dass ein genetischer Austausch mit Geschlechtschromosomen zu einer Beeinflussung der Introgression bei den Mitochondrien oder dem nukleären Genom führt, so hat man bei Graptemys den Vorteil, dass sie eine umweltabhängige Geschlechtsbestimmung zeigt und keine Geschlechtschromosomen besitzt. Deshalb kann man den Introgressionsverlauf untersuchen, ohne dass die Geschlechtschromosomen abhängige Heterogametenbildung (geschlechtsspezifische Erbgänge) berücksichtigt werden muss. Wir identifizierten und sequenzierten sowohl einen für die Art artspezifischen mitochondrialen Kontrollregionmarker als auch zwei nukleäre Marker (ODC und HNFAL) bei Schildkröten innerhalb des Gesamtverbreitungsgebiets. Wir fanden in der Untersuchungspopulation sowohl nukleäre als auch mitochondriale Introgressionen und wir fanden sowohl zeitliche Hinweise, die in Einklang mit der vermuteten Zeit, in der die Hybridisierung erfolgte, standen, als auch welche, die zu jener Zeit, in der die nachfolgende Isolation erfolgte, passten. Wir können ebenfalls zeigen, dass es zu keinem Ungleichgewicht zwischen cytonukleären und mitochondrialen Markern gekommen ist, was andeutet, dass es bei Graptemys einige wichtige prä- und postzygotische Grenzen für den Genfluss nicht gibt, die charakteristisch für andere Systeme (Reproduktionssysteme, Spezieshybriden) sind. Letztendlich zeigen wir, dass die Landkartenschildkröten eine sehr komplexe molekulare Evolutionsgeschichte haben und dass Zusammenbrüche von Reproduktionsbarrieren in ihrer Evolutionsgeschichte eher häufiger stattfanden, als man es vermutet.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Landkarten-Höckerschildkröte, Graptemys geographica, – © Grégory Bulté
Landkarten-Höckerschildkröte,
Graptemys geographica,
© Grégory Bulté

Auch diese Arbeit zeigt uns, dass es in der Erdgeschichte dazu kommt, dass Reproduktionsbarrieren verschwinden und Spezies, die dies können (sicher unbewusst) die Chance zur Genflusssteigerung durch Hybridisierung, also über Artgrenzen hinweg realisieren (siehe auch Lara-Ruiz et al. 2006, Bowen & Karl 2007, Parham 2008, Butler & Myers 2011, Cureton et al. 2011, Xia et al. 2011). Der Zeitrahmen innerhalb dessen sich solche Szenarien abspielen, mag unterschiedlich sein und mehrere Tausend oder gar Millionen Jahre betragen, wenn die trennenden Barrieren durch Eiszeiten oder tektonische Verschiebungen in der Erdkruste bedingt sind. Sie können aber auch von häufiger und kurzfristiger Natur sein, wenn z.B. durch ein massives weiträumiges Hochwasser Grenzen zwischen normalerweise getrennten Flusssystemen oder Seen aufgehoben werden. Sie fragen wann passiert so etwas nun? Wir haben so etwas gerade vor zwei Jahren in Australien zumindest auf den Bildschirmen unserer Fernseher miterleben können (siehe auch Kommentar zu Boero 2010). Wie die Autoren im vorletzten Satz ihres Abstracts und ausführlicher in der Diskussion der Arbeit andeuten, scheinen Schildkröten, die keine Geschlechtschromosomen haben, keine oder zumindest weniger Probleme bei der Hybridisierung zu haben, als andere Tiere, wie wir das von den unfruchtbaren Maultieren her kennen, die ja Hybriden aus Pferd und Esel sind. Aber auch da gibt es Ausnahmen, siehe Kommentar zu Hoffmann & Sgro (2011). Hier sollte man sich schon die Frage stellen, inwieweit dieses Potential zur Hybridbildung den Schildkröten in der Vergangenheit geholfen hat, so lange zu überleben und selbst Epochen zu überdauern, in denen es für andere Spezies zu einem Massenaussterben kam? Die meist von Systematikern geprägte Arterhaltungsbiologie macht heute ein Problem daraus, indem sie zum einen ständig Arten weiter aufspaltet, die vielleicht früher bestenfalls als Unterarten oder Lokalrassen betrachtet wurden (ich möchte dies mal zynisch als den Versuch den durch den Menschen verursachten offensichtlichen Biodiversitätsverlust durch Arteninflation – sprich Erfindung neuer Arten auszugleichen) und zum anderen durch die Ausmerzung sprich Tötung von Hybriden, deren Ausbreitung zu verhindern, zumindest wenn es sich um Hybriden handelt, die in menschlicher Obhut entstanden sind. Lediglich dort, wo gar nichts mehr geht, lenkt man ein und wird inkonsequent wie zum Beispiel bei Lonesome George dessen Genomanteile durch Verpaarung mit Weibchen anderer (Unter) Arten erhalten werden sollte (Nichols 2004) oder wo man aus Hybriden zurückzüchten wollte (Poulakakis et al. 2008). Ja es soll sogar noch mehr Arten geben, weil wir ja derzeit meist nur kurze DNS-Abschnitte zur molekulargenetischen Artbestimmung nutzen, wird jetzt schon prognostiziert, dass dies zu ungenau sei und man, je mehr des Genoms man charakterisiert, auch mit mehr Arten (kryptischen Arten) rechnen kann. Dem ist auch nichts entgegenzusetzen, außer der Frage: Hilft uns das wirklich weiter? Denn wer heute behauptet, ich kann Hybriden seltener Arten einfach ausmerzen, damit ja keine Ausbreitung von Hybriden stattfindet, und dann damit argumentiert, wir können ja immer noch Hybriden erzeugen, wenn wir merken, der reduzierte Genfluss innerhalb einer individuenschwachen Art führt zu deren Untergang, der irrt, weil auch in der Zeit bis zu dieser Erkenntnis die Individuenzahlen weiter sinken, und es schlicht weg zu spät wird, wie uns vielleicht der Tod von Lonesome George mahnend vor Augen hält. Zudem widersprechen sich solche Leute selbst, denn wer davon ausgeht, dass innerhalb der bekannten Arten noch kryptische stecken könnten (siehe Spinks et al. 2012), die man noch nicht kennt, der kann deren Genom ja nicht gezielt erhalten, weil noch unbekannt ist, ob und wie. Die einzige Chance so etwas retrospektiv zu machen, bestünde darin, die genetischen Veränderungen zu studieren, die man bei Nachzuchthybriden mit exakt bekannter Hybridisierungfrequenz beobachtet. Denn wenn man davon ausgeht, dass die derzeit praktizierten molekulargenetischen Analysen zu ungenau sind, um kryptische Arten zu erkennen, muss man auch zugeben, dass die gleichen Methoden ja zur Identifizierung von Hybriden eingesetzt werden, die dann per se auch zu ungenau sein dürften, um einfach mal eben so einen exakten Rückkreuzungsplan für eine vielleicht zu spät erkannte Art zu haben, deren Genom in Hybriden steckt. Hier wäre es wohl aus wissenschaftlicher Sicht zur Entwicklung besserer Methoden angeraten, sowohl Zuchthybriden mit genau protokolliertem Hybridisierungsmuster zu erhalten, als auch Zufallshybriden, in deren Genom jenes von noch nicht erkannten kryptischen Spezies enthalten sein könnte. Zudem stammen auch Hybriden von vom Aussterben bedrohten Individuen ab. Wir sollten uns einfach einmal überlegen, warum die vom Menschen unbeeinflusste „Natur“ und Evolution, wie wir zunehmend erkennen müssen, wo immer möglich einen anderen Weg nutzt, als er von unseren „Erhaltungsfachleuten“ vorgeschlagen wird. Und dieser von ihr genutzte Weg scheint es nach unseren heutigen Erkenntnissen Schildkröten erlaubt zu haben, vergleichsweise artenreich über 225 Millionen Jahre diesen Planet zu besiedeln. Um es einmal so neutral wie möglich auszudrücken ist ja der Begriff Art ein vom Menschen abstrakt hervorgebrachter, definitionsabhängiger Begriff zur Kategorisierung der belebten Materie (Umwelt), der erst einmal rein gar nichts mit Überlebenssicherung zu tun hat. Letzteres ist für jeden einsichtig, da wir ja auch fossile ursprünglich einmal belebte Materie als ausgestorbene Arten beschreiben. Deshalb sollten wir vielleicht einmal anfangen nachzudenken, wie wir den abstrakten Kategorisierungsbegriff „Art“ sinnvoll mit dem der Überlebenssicherung auf höchstmöglichem Niveau in Einklang bringen können. Ich denke, da sind vielleicht im Sinne der Krisenbewältigung einmal wieder Individuen gefragt, die sich vom Zeitgeist losgelöst den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Anforderungen öffnen können, wie einst Darwin! (siehe Sulloway, 2009). Denn wer heute vielleicht auch nur des Geldes wegen Arten, weil selten und deshalb wertvoller, um jeden Preis rein halten will, übersieht dabei den überlebenssichernden Aspekt weitgehend. Global gesehen sind alle Arten und Lebewesen erhaltenswert, allein schon deshalb, weil sie biologische Energieträger sind, und damit einen wichtigen Beitrag zum Energiefluss innerhalb belebter Materie beitragen (siehe Kommentare zu Saenz-Arroyo et al. 2006 und Bertolero et al. 2007). Aber dazu hat die Welt vor Karl von Linne keine Arterhalter gebraucht, die dessen eingeführte Kategorisierungsdefinitionen missbrauchen, und sie wird sie sicher auch heute entbehren können, so lange Wir gewillt sind, mehr für die globale Überlebenssicherung der Natur zu tun (siehe Lee 2011) als für die persönliche Gewinnmaximierung einiger Interessensgruppen.

Literatur

Bertolero, A., D. Oro, & A. Besnard (2007): Assessing the efficacy of reintroduction programmes by modelling adult survival: the example of Hermann’s tortoise. – Animal Conservation 10(3): 360-368 oder Abstract-Archiv.

Boero, F. (2010): The Study of Species in the Era of Biodiversity – A Tale of Stupidity. – Diversity 2(1): 115-126 oder Abstract-Archiv.

Bowen, B. W. & S. A. Karl (2007): Population genetics and phylogeography of sea turtles. – Molecular Ecology 16(23): 4886-4907 oder Abstract-Archiv.

Butler, J. M, C. K. Dodd, M. Aresco & J. D. Austin (2011): Morphological and molecular evidence indicates that the Gulf Coast box turtle (Terrapene carolina major) is not a distinct evolutionary lineage in the Florida Panhandle. – Biological Journal of the Linnean Society 102(4): 889-901 oder Abstract-Archiv.

Cureton, J. C., A. B. Buchman, R. Deaton & W. I. Lutterschmidt (2011): Molecular Analysis of Hybridization between the Box Turtles Terrapene carolina and T. ornata. – Copeia 2: 270-277 oder Abstract-Archiv.

Hoffmann, A. A. & C. M. Sgro (2011): Climate change and evolutionary Adaptation. – Nature 470(7335): 479-485.

Lara-Ruiz, P., G. G. Lopez, F. R. Santos & L. S. Soares (2006): Extensive hybridization in hawksbill turtles (Eretmochelys imbricata) nesting in Brazil revealed by mtDNA analyses. – Conservation Genetics 7(5): 773-781 oder Abstract-Archiv.

Lee, H. (2011): Climate change, connectivity, and conservation success. – Conservation Biology 25(6): 1139-1142 oder Abstract-Archiv.

Nicholls, H. (2004): One of a kind. – Nature 429(6991): 498-500 oder Abstract-Archiv.

Parham, J. F. (2008): Rediscovery of an „extinct“ Galapagos tortoise. – PNAS – Proceedings of the National Academy of Science of the U.S.A. 105(40): 15227-15228 oder Abstract-Archiv.

Poulakakis, N., S. Glaberman, M. Russello, L. B. Beheregaray, C. Ciofi, J. R. Powell & A. Caccone (2008): Historical DNA analysis reveals living descendants of an extinct species of Galapagos tortoise. – Proceedings of the Natural Acadamy of Science USA 105(40): 15464-15469 oder Abstract-Archiv.

Saenz-Arroyo, A., C. M. Roberts, J. Torre, M. Carino-Olvera & J. P. Hawkins (2006): The value of evidence about past abundance: marine fauna of the Gulf of California through the eyes of 16th to 19th century travellers. – Fish and Fisheries 7(2): 128-146 oder Abstract-Archiv.

Spinks, P. Q., R. C. Thomson, B. Hughes, B. Moxley, R. Brown, A. Diesmos & H. B. Shaffer (2012): Cryptic variation and the tragedy of unrecognized taxa: the case of international trade in the spiny turtle Heosemys spinosa (Testudines: Geoemydidae). – Zoological Journal of The Linnean Society 164(4): 811-824 oder Abstract-Archiv.

Sulloway, F. J. (2009): Tantalizing tortoises and the Darwin-Galapagos Legend. – Journal of the History of Biology 42(1): 3-31 oder Abstract-Archiv.

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