Bock, S. L., C. R. Smaga, J. A. McCoy & B. B. Parrott (2022): Genome-wide DNA methylation patterns harbour signatures of hatchling sex and past incubation temperature in a species with environmental sex determination. – Molecular Ecology 31(21): 5487-5505.
Das genomübergreifende DNS-Methylierungsmuster enthält Signaturen für das Geschlecht der Schlüpflinge und über die in der Vergangenheit erfahrenen Inkubationstemperaturen bei Spezies mit Umweltabhängiger-Geschlechtsausprägung.
DOI: 10.1111/mec.16670 ➚
Die Erhaltung von temperatursensitiven Arten hängt von der In-Echtzeit-Erfassung von deren organismischen Reaktionen sowie deren Reaktionen auf Populationsniveau in Bezug zu den Umweltveränderungen ab. Epigenetische Prozesse werden dabei zunehmend als wichtige Schlüssel-Integrationsmechanismen erkannt die dazu beitragen, dass die Umweltbedingungen vor Ort in plastische Entwicklungsabläufe integriert werden. Deshalb können diese den Entwicklungsprozess begleitenden epigenetischen Datensätze potentielle Anzeichen für kryptische Phänotypen enthalten die für das Erhaltungsmanagement bedeutend sind. Hier zeigen wir die Nutzung der genomübergreifenden DNS-Methylierungsmuster (DNSm) im Angesicht des Klimawandels für eine Gruppe besonders anfälliger Arten, nämlich jenen mit einer Temperaturabhängigen-Geschlechtsausprägung (TSD). Aufgrund ihrer Abhängigkeit von thermischen Signalen während ihrer Entwicklung für die Geschlechtsausprägung können sich bei ihnen zeitliche Verschiebungen bei der Temperatur laut den Vorhersagen so auswirken, dass das Geschlechterverhältnis bei den Nachkommen gestört wird was zur Destabilisierung der betroffenen Populationen führen kann. Unter der Anwendung einer Bisulfit-Sequenzierung mit reduzierter Darstellung stellten wir das Profil des DNS-Methyloms der Blutzellen von Schlüpflingen des Amerikanischen Alligators (Alligator mississippiensis) dar einer TSD-Spezies die keine zuverlässigen Marker zur Bestimmung des Geschlechtsdimorphismus während der frühen Lebensstadien aufweist. Wir identifizierten dabei 120 mit dem Geschlecht assoziierte unterschiedlich methylierte Cytosine (DMCs; FDR < 0.1) bei Schlüpflingen die unter einer Spanne von unterschiedlichen Temperaturen inkubiert worden waren sowie zusätzlich 707 spezifische temperaturassoziierte DMCs. Wir entwickelten zudem DNSm-basierte Modelle die in der Lage waren anhand der Methylierungsmuster das Geschlecht der Schlüpflinge mit einer 100%igen Zuverlässigkeit aufzuzeigen (Angewendet bei 20 Trainingsproben und vier echten Testproben) und wir konnten damit auch rückwirkend die erfahrenden Inkubationstemperaturverläufe mit einem mittleren absoluten Fehler von 1,2 °C (für die vier echten Testproben) basierend auf dem Methylierungsstatus 20 und 24 Genloci rekonstruieren. Weitestgehend unabhängig von den epigenetischen Musterverläufen die sich in den embryonalen Gonaden während des TSD-Verlaufs ereignen reichten uns die DNSm-Muster aus den Blutzellen als nicht lethale Marker zur Geschlechtsbestimmung bei den Schlüpflingen sowie zur Rekonstruktion der durchlaufenen Inkubationstemperaturbedingungen in Bezug zur Anwendung von Erhaltungsmaßnahmen. Diese Ergebnisse werfen interessante Fragen auf insbesondere in Bezug auf die gewebespezifischen epigenetischen Muster im Kontext der Entwicklungplastizität.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Diese interessante Arbeit beschreibt leider noch keine Schildkrötenspezies, sondern Alligatoren, aber ich habe sie trotzdem einmal ausgewählt, weil sie eine äußerst minimal-invasive Methode beschreibt die sich sehr wahrscheinlich auf alle Reptilien mit temperaturabhängiger Geschlechtsausprägung übertragen lässt. Denn eine kleine Blutprobe oder vielleicht sogar Hautzellen könnten die gleichen Ergebnisse liefern und somit der Erhaltungsbiologie sehr viel weiterhelfen. Auch die mögliche Rekonstruktion der thermischen Inkubationsbedingungen könnte zu einem wesentlich verbesserten Verständnis führen wie sich die Umweltbedingungen auf die Entwicklung und die Geschlechtsausprägung in einem zeitabhängigen Kontext auswirken. Insofern eröffnen sich dadurch etliche neue Untersuchungsansätze. Sicherlich kann es notwendig sein diese für jede einzelne Spezies oder gar Lokalpopulation zu erarbeiten, aber das sollte eigentlich kein größeres Problem darstellen als wir es für die vielen unterschiedlichen SNP-Marker zur molekulargenetischen Abstammungsidentifizierung für etliche Spezies schon kennen. Auch die von diesen Autoren festgestellte Fehlerabweichung von nur 1,2 °C scheint dies zu unterstreichen, denn wie von Carter et al. (2019) beschrieben weisen die Unterschiede bei der Pivotaltemperatur für die einzelnen Weibchen innerhalb einer Population schon eine größere individuelle Schwankungsbreite auf. Insofern wird es sicherlich noch eine Weile dauern bis man damit rein über die Temperatur für jedes Weibchen deren Pivotaltemperatur ermitteln kann um gezielt ein bestimmtes Geschlecht per Inkubationstemperatur zu erbrüten aber diese Arbeit liefert die Methode mit der man anhand einer Inkubationsserie für jedes Muttertier die entsprechenden Inkubationsbedingen erarbeiten könnte. Da Schildkröten dabei zu den langlebigeren Spezies zählen kann man das sicherlich auch in einem vertretbaren zeitlichen Rahmen schaffen. Denn man wird diesen Aufwand ja nicht für jede noch in großer Individuenzahl vorhandenen Population oder Art machen müssen sondern sich dabei auf die wirklich sehr stark bedrohten Spezies im Rahmen von Nachzuchtprogrammen beschränken können! Grundsätzlich zeigt uns aber auch diese Arbeit, dass eben neben der reinen genetischen Betrachtung der DNS auch DNS-Modifikationen wie hier die Epigenetik eine wesentliche Rolle bei der Geschlechts- und Phänotypausprägung spielen, wobei sicherlich auch mütterliche, hormonelle Einflüsse zu berücksichtigen wären die aber laut Marroquin-Flores et al. (2022) dem Einfluss der Temperatur nachgeschaltet einwirken. Damit sind wir sicherlich auch noch nicht am Ende der Erkenntnis angelangt den welche Rolle dabei Transposons, zirkuläre RNS oder Longchain-Non-coding RNS’s spielen bleibt auch bislang unverstanden (siehe dazu Bidmon, 2018). Wir dürften also auch weiterhin noch genug Forschungsbedarf haben, aber die obige Arbeit verweist auf eine wirklich zukunftsweisende, praktisch einsetzbare Methode hin, die schon mal direkt für die Erhaltungsbiologie bei TSD-Spezies einsetzbar ist zumindest wenn sichergestellt werden kann, dass es zu einer guten co-operativen Zusammenarbeit mit den jeweiligen Instituten auch im Rahmen der Citizen-Science Initiativen kommt (siehe Bidmon, 2022). Vielleicht könnte es uns sogar weiterhelfen, wenn wir die Ressourcen für die reine taxonomische Molekulargenetik dahingehend verändern, dass wir damit vielmehr zur Erhaltung bedrohter Arten beitragen würden als das wir damit wie erst kürzlich wieder dargestellt nur zur „Arteninflation“ beitragen (siehe dazu Dufresnes & Jablonski, 2022; siehe dazu auch Garnet & Christidis, 2017; 2018). Denn die hier dargelegte molekulargenetische Technik verweist ja eigentlich schon auf das Niveau der Lokalpopulation und bezieht sich damit auf weit mehr als die Differenzierung von Unterart oder Art hergeben würde. Sie fragen warum? Nun, weil die diese epigenetischen Modulationen wie beschrieben auf die lokalen Umweltbedingungen ansprechen und lokalen Adaptation (Umweltanpassung) eines Phänotyps beitragen.
Literatur
Bidmon, H.-J. (2018): Das Humangenomprojekt, Epigenetik und die Zukunft von Reptilien temperaturabhängiger Geschlechtsausprägung – Ein Kommentar. – Schildkröten im Fokus 15(3): 11-18, 2018 ➚.
Bidmon, H.-J. (2022): Das 2. Meier Symposium über die Erhaltung von stark gefährdeten Schildkröten. Schildkröten im Fokus 19(3): 18-22 ➚.
Bowden, R. M. & R. T. Paitz (2021): Is Thermal Responsiveness Affected by Maternal Estrogens in Species with Temperature-Dependent Sex Determination?. – Sexual Development 15(1): 69-79 oder Abstract-Archiv.
Carter, A. L., B. L. Bodensteiner, J. B. Iverson, C. L. Milne-Zelman, T. S. Mitchell, J. M. Refsnider, D. A. Warner & F. J. Janzen (2019): Breadth of the thermal response captures individual and geographic variation in temperature‐dependent sex determination. – Functional Ecology 33(10): 1928-1939 oder Abstract-Archiv.
Dufresnes, C. & D. Jablonski (2022): A genomic revolution in amphibian taxonomy. – Science 377 (6612): 1272; DOI: 10.1126/science.ade5002 ➚.
Garnett, S. T. & L. Christidis (2018): Science-based taxonomy still needs better governance: Response to Thomson et al. – PLoS Biology 16(3): e2005249; DOI: 10.1371/journal.pbio.2005249 ➚.
Garnett, S. T. & L. Christidis (2017): Taxonomy anarchy hampers conservation. – Nature 546(7656): 25-27; DOI: 10.1038/546025a ➚.
Marroquín-Flores, R. A., R. T. Paitz & R. M. Bowden (2022): Temperature fluctuations and estrone sulfate affect gene expression via different mechanisms to promote female development in a species with temperature-dependent sex determination. – Journal of Experimental Biology225(16): jeb244211 oder Abstract-Archiv.