Bidmon - 2023 - 01

Bidmon, H.-J. (2023): Das Schildkrötenjahr 2023.

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Wenn wir einmal davon absehen, dass Arbeiten in Bezug auf die Auswirkungen des Klimawandels auf Meeresschildkröten zum einen und zum zweiten in Bezug auf die Beifangreduzierung sowie Mikroplastikverschmutzung bei Meeresschildkröten vielfältig erschienen sind, waren die thematischen Schwerpunkte für Süßwasser- und Landschildkröten mit Ausnahme von der Haltung von Pelodiscus sinensis in China weitgehend ausgeglichen. Mit einer Ausnahme (Sato et al., 2023), gab es im Gegensatz zu 2022 bislang auch keine weiteren bahnbrechenden Neu- oder Wiederentdeckungen bei Land- und Wasserschildkröten, die in besonderem Maße hervorstechen. Vielleicht sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Zeitschrift – Schildkröten im Fokus – ihr 20-ig–Jähriges vollendet hat und somit auch das damals gegründete Archiv.
Schon während der letzten beiden Jahre zeichnete sich allerdings in der zweiten diesjährigen Jahreshälfte ab, dass das Thema „Invasive Schildkrötenarten“ zunehmend in den Vordergrund rückte. Aber, wie fast bei jedem heiklen Thema, dessen wirkliche Bearbeitung auch politische und kommerzielle Konsequenzen nach sich ziehen würde, blieben die Arbeiten fast unisono im gleichen Tonfall und mit althergebrachter Argumentation, bei einem seit der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in vielfältiger Weise abgehandelten Schema. Mit nur einer Ausnahme (Dupuis-Desormeaux et al., 2023) beschränkten sich die Publikationen auf das Auflisten der lokal vorgefundenen invasiven Schildkrötenarten und nun auch zunehmend mit der Feststellung, dass sich diese invasiven Schildkrötenspezies in dem einen oder anderen europäischen, asiatischen und amerikanischen Land in der Wildnis zu vermehren beginnen und anscheinend auch sich mit eigenständigen, sich selbsterhaltenden Populationen etablieren. Natürlich werden dann im Bezug dazu der Tierhandel sowie natürlich auch die Praxis der illegalen Auswilderung solcher Tiere durch die Käufer vielfach diskutiert und sogar in einigen Fällen wissenschaftlich mit neuer Technik oder Untersuchungsverfahren dokumentiert (Magalhaes et al., 2023). Im Gegensatz dazu ändert sich aber wenig, weder auf gesellschaftlicher noch politischer Ebene und deshalb erscheint es fast müßig sich darüber aufzuregen. Zudem tun wir uns auch schwer mit diesem Thema, weil ja mittlerweile solch invasive Arten zunehmend in ihren ursprünglichen Herkunftsgebieten als bedroht oder gar als gefährdet eingestuft werden. Sodass es selbst auf internationaler Ebene zunehmend umstritten ist sie einfach zu töten. Hier in den meisten europäischen Ländern versucht man seit langem dem Problem mit Auffangstationen und mit der Hilfe engagierter Privatleute Herr zu werden. Allerdings ist das ja nur ein Problem welches wir nach traditioneller Sichtweise wieder einmal als singulär und ohne Beachtung eines umfassenderen Kontexts behandeln. Dieses Schubladendenken (siehe dazu auch Szabo et al., 2020 und den dortigen Kommentar) hat uns seit Generationen mehr Probleme als Nutzen eingehandelt und zu Fehleinschätzungen verleitet. Denn das andere große Thema welches wir aus diesem Grunde auch kaum in den Griff bekommen ist ja der Klimawandel. Dessen Unabwendbarkeit mit allen daraus resultierenden Problemen, wie Erhöhung der Meeresspiegel, lokale und zeitliche Ausdehnung der Aridifizierung (Austrocknung) gepaart mit extremen lokalen Niederschlagsmaxima und extremen Überflutungen sowie sehr wahrscheinlich auch mit einer Zunahme bei den vulkanischen Aktivitäten (siehe Aubry et al., 2021; 2022 und auch die angehängten Links). Betrachten wir also das Thema „Invasive Schildkrötenarten“ im oben angedeuteten Gesamtkontext sowohl räumlich wie zeitlich, sollten wir eigentlich sofort erkennen, dass die Zeit schon fast abgelaufen ist. Es nutzt wenig sich über Auffangstationen oder Zoos als Problemlösung Gedanken zu machen, wenn wir aktuell schon sehen, dass allein die Überschwemmungsereignisse der letzten beiden Jahre in Europa gezeigt haben dürften, dass weder Privathaltungen noch Zoos und Auffangstationen ein Entweichen invasiver Individuen in die Natur verhindern werden können, da alle diese Einrichtungen solchen Extremwetterlagen (Ahrtal, Italien, Griechenland usw.) nicht standhalten würden. Gerade die Unwetter in Bulgarien zeigten, wie ein in der Nähe von Burgas existierender Vogelpark einfach weggerissen wurde. Insofern denke ich müssen wir, und spätestens unsere Kinder sich damit abfinden, dass der Mensch als natürlicher Bestandteil der Natur auch diesbezüglich seinen Beitrag, nur in etwas extremerer Form geleistet hat, als dies Zugvögel und andere um den Globus wandernde Tierarten seit Jahrmillionen schon getan haben. Vielleicht hat das auch langfristig gesehen etwas Gutes, denn es tauchen in diesem Zusammenhang zunehmend Arbeiten auf, die aufzeigen, wie schwer es wohl einige Populationen (Arten will ich hier bewusst ausklammern) haben durch eigenständige Migration oder Verlagerung der Nistplätze sich den steigenden Umwelttemperaturen anzupassen (z. B. Paget et al., 2023; Morris, 2023). Für solche Gruppen könnte es sogar hilfreich sein, wenn sie es durch den Menschen ob legal („assisted colonisation“; Paget et al., 2023) oder illegal (Kommerziell-assistierte globale Migration; Bidmon, 2023) in neue Biotope, die ihnen zukünftige Überlebenschancen bieten, geschafft haben. Wir sollten also langsam damit beginnen zu begreifen aus der vor unseren Augen stattfindenden Realität einen Nutzen zu ziehen und die wissenschaftlichen Zielsetzungen beim Studium invasiver Schildkrötenarten dem global zu beobachtenden Kontext anzupassen und zu verändern. Da wir es bis heute nicht geschafft haben die Gefährdungen für die heimischen Arten soweit zurückzuführen, dass sie eine langfristige Überlebenschance haben, sollten wir nicht so tun als könnten wir das Problem mit den invasiven Arten wirklich, so wie bislang angedacht, zufriedenstellend lösen. Selbst wenn ich mir die Arbeit von Thomson (2023) mit dem Thema „Wie kann AI (künstliche Intelligenz) gefährdete Arten schützen“ ansehe, muss ich zwar anerkennen, dass AI dazu vielfältige Möglichkeiten bietet, aber wie viel Zeit bleibt uns AI auch mit genug realistischen Daten, die eigentlich in der Wildnis, sprich in natürlichen Lebensräumen erarbeitet werden müssten zu versorgen. Mit diesen müsste ja die AI so trainieren werden, dass sie wirklich ein umfassendes Bild der Situation aufzeigen und das, was geändert werden müsste darstellen kann. Das bislang einzige gute Beispiel des Einsatzes von AI in Bezug zum langfristig festgestellten Biodiversitätsverlust ist die Arbeit von Eastwood et al. (2023) und deren Ergebnis war, dass in dem dort untersuchten Ökosystem zu 90 % der Eintrag von Insektiziden und Fungiziden für die Verluste verantwortlich waren. Da fragt man sich dann schon was wird sich ändern, wenn selbst die EU-Kommission der Verlängerung zur Nutzung von Glyphosat sowie der Nutzung von Neonicotinoiden (Bidmon, 2021) weiterhin zustimmt, ob das diesjährige EU-Gerichtshofurteil diese Praxis beendet oder ob man sich damit rauszureden versucht, es gelte nur für Belgien bleibt abzuwarten. Ja, selbst die Biolandwirtschaft kann ja nicht auf Spritzmittel und Fungizide verzichten, die zwar andere als im konventionellen Anbau sind, aber wirken müssen sie auch und damit werden sie auch andere Lebewesen in der jeweiligen Landschaft beeinträchtigen.
Es könnte sogar sein, dass uns AI aufzeigen könnte, dass wir lieber Kriege vermeiden sollten und umfassende Veränderungen wie sie von Thomson et al. (2021) z. B. schon mal für Schildkröten beschrieben wurden uns unausweichlich bevorstehen. Trotzdem sollten wir das Überleben nicht nur unter einem aussichtlosen Aspekt wahrnehmen, sondern uns daran erinnern, dass Veränderung und Adaptation schon immer das bislang bekannte Grundprinzip der Evolution darstellte. Wir müssen uns diesem letztendlich auch anpassen! Vielleicht sollten wir die besinnlichen Festtage nutzen uns darüber Gedanken zu machen und vielleicht erkennen welche Konsequenzen wir langfristig akzeptieren müssen. Aus der COVID-19-Krise haben wir in Bezug auf weniger Energieverbrauch noch zu wenig gelernt, denn selbst Fluggesellschaften setzen weiterhin auf Wachstum, der Energieverbrauch der sozialen Medien, auch für unnötige Chats und Likes, wird weiter zunehmen und ob Elektromobilität allein, die Lösung sein kann bleibt abzuwarten. Auch das heikle Thema der Bestattungen weg von der Erdbestattung und hin zur Verbrennung vergrößert im Angesicht von mehr als 8 Milliarden Menschen eher deren ökologischen Fußabdruck des Menschen als, dass es den zukünftigen Generationen weiterhilft (Bidmon, 2009; 2019). Dabei wäre vielleicht in vielen Bereichen, der Begriff Reduktion etwas mehr in den Vordergrund zu rücken! Denn ohne Reduzierung werden die schwammig formulierten im Abschlussbericht der Klimakonferenz in Dubai kaum Wirkung zeigen. Ja und selbst hier in Deutschland gestalten sich die politischen Entscheidungen eher so, dass sie zu viele verunsichern und aus Protest oder Angst vor persönlicher Einschränkung eher in eine sehr bedenkliche undemokratische Richtung treiben als sich wirklich den Notwendigkeiten zu stellen.
Allerdings hat die 51. Kalenderwoche doch – zumindest für die Arterhaltungsfreunde – eine Besonderheit nochmal hervorgehoben, denn dem Japaner Katsuhiko Hayashi und seinem Team ist es dieses Jahr gelungen aus männlichen Mäusezellen Oozyten zu generieren und diese künstlich zu befruchten und aus 630 solcher Versuche konnten tatsächlich 7 Nachkommen gezeugt werden. Mit dieser Technik ist der Grundstein dafür gelegt auch Arten von denen nur noch Männchen oder nur Weibchen bekannt sind zu vermehren (Ledford, 2023). Sicher ist da für die jeweilige Spezies noch etliche Forschungsarbeit notwendig, aber es wäre nicht ganz auszuschließen auch Arten wie Rafetus swinhoei (Jangtse-Riesenweichschildkröte) vielleicht eine Zukunft in menschlicher Obhut zu ermöglichen.

In diesem Sinne ein besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in ein „schildkrötologisch“ interessantes 2024.

Literatur

Aubry, T. J., J. I. Farquharson, C. R. Rowell, S. F. L. Watt, V. Pinel, F. Beckett, J. Fasullo, P. O. Hopcroft, D. M. Pyle, A. Schmidt & J. Staunton-Sykes (2022): Impact of climate change on volcanic processes: current understanding and future challenges. – Bulletin of Volcanology 84(58): 2-11; DOI: 10.1007/s00445-022-01562-8 ➚.

Aubry, T. J., J. Staunton-Sykes, L. R. Marshall, J. Haywood, N. L. Abraham & A. Schmidt (2021): Climate change modulates the stratospheric volcanic sulfate aerosol lifecycle and radiative forcing from tropical eruptions. – Nature Communications 12(1): 4708; DOI: 10.1038/s41467-021-24943-7 ➚.

Bidmon, H.-J. (2021) Kommentar zu: Reyes-Grajales, E., R. Macip-Ríos, J. B. Iverson & W. A. Matamoros (2021): Population Ecology and Morphology of the Central Chiapas Mud Turtle (Kinosternon abaxillare). – Chelonian Conservation and Biology 20(1): 18-26 oder Abstract-Archiv.

Bidmon, H.-J. (2019) Kommentar zu: Oziolor, E. M., N. M. Reid, S. Yair, K. M. Lee, S. Guberman VerPloeg, P. C. Bruns, J. R. Shaw, A. Whitehead & C. W. Matson (2019): Adaptive introgression enables evolutionary rescue from extreme environmental pollution. – Science 364(6439): 455-457 oder Abstract-Archiv.

Bidmon, H.-J. (2009) Kommentar zu: Zani, P. A. & R. Kram (2008): Low metabolic cost of locomotion in ornate box turtles, Terrapene ornata. – Journal of Experimental Biology 211(23): 3671-3676 oder Abstract-Archiv.

Dupuis-Désormeaux, M., J. E. Lovich & J. W. Gibbons (2022): Re-evaluating invasive species in degraded ecosystems: a case study of red-eared slider turtles as partial ecological analogs. – Discover Sustainability 3(1): 15 oder Abstract-Archiv.

Eastwood, N., J. Zhou, R. Derelle, M. A.-E. Abdallah, W. A. Stubbings, Y. Jia, S. E. Crawford, T. A. Davidson, J. K. Colbourne, S. Creer, H. Bik, H. Hollert & L. Orsini (2023): 100 years of anthropogenic impact causes changes in freshwater functional biodiversity. – eLife 12: RP86576; DOI: 10.7554/eLife.86576 ➚.

Ledford H. (2023): Making mice with two dads: this biologist rewrote the rules on sexual reproduction. – Nature 624(7992): 499; DOI: 10.1038/d41586-023-03922-6 ➚.

Magalhaes, A. L. B., C. S. de Azevedo, A. Maceda-Veiga & J. Patoka (2023): The scientist eyes: monitoring YouTube™ to quantify aquatic pet release in Brazil. – Aquatic Ecology 58(1): 73–88 oder Abstract-Archiv.

Morris, S. (2023): Consider physiology when translocating animals. – Natural climate change 13: 769-770; DOI: 10.1038/s41558-023-01747-9 ➚.

Paget, S., A. C. Gleiss, G. Kuchling & N. J. Mitchell (2023): Activity of a freshwater turtle varies across a latitudinal gradient: Implications for the success of assisted colonisation. – Functional Ecology 37(7): 1897-1909 oder Abstract-Archiv.

Sato, H., N. Adachi S. Kondo, C. Kitayama & M. Tokita (2023): Turtle skull development unveils a molecular basis for amniote cranial diversity – Science Advances 9(46): eadi6765 oder Abstract-Archiv.

Szabo, B., D. W. A. Noble & M. J. Whiting (2020): Learning in non-avian reptiles 40 years on: advances and promising new directions. – Biological reviews of the Cambridge Philosophical Society 96(2): 331-356 oder Abstract-Archiv.

Thompson, T. (2023): How AI can help to save endangered species. – Nature 623(7986): 232-233; DOI: 10.1038/d41586-023-03328-4 ➚.

Thomson, R. C., P. Q. Spinks & H. B. Shaffer (2021): A global phylogeny of turtles reveals a burst of climate-associated diversification on continental margins. – Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 118(7): e2012215118 oder Abstract-Archiv.

Weitere lesenswerte Quellen (Alle Verweise mit Stand: 06.11.2023)
Hört auf mit dem #Klimawandel. Der Begriff „Klimawandel“ ist zu einem Allerweltsbegriff geworden, zu einer leeren Chiffre. Wer „Klimawandel“ sagt, verschleiert Machtverhältnisse und kaschiert die Verursacher. https://geschichtedergegenwart.ch/hoert-auf-mit-dem-klimawandel/?utm_source=pocket-newtab-de-de ➚.
https://www.zeit.de/wissen/2023-11/erderwaermung-amazonas-abholzung-duerre-klimawandel?utm_source=pocket-newtab-de-de ➚.
https://www.arte.tv/de/videos/095731-001-A/klima-im-wuergegriff-der-oelkonzerne-1-2/?utm_source=pocket-newtab-de-de ➚.
Jahresrückblick 2023: https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x ➚.
https://www.nzz.ch/wissenschaft/lachszucht-in-island-bedrohen-entflohene-fische-den-bestand-der-wildlachse-ld.1767074?utm_source=pocket-newtab-de-de ➚.
Grossmann, D. (2023): Trouble in the Amazon: The rainforest is starting to release its carbon. Is it heading towards a tipping point? – Nature: https://www.nature.com/immersive/d41586-023-02599-1/index.html ➚.