Nelson, H. V., L. Silver, T. G. L. Kovacs, E. A. McLennan, A. Georges, J. L. DeGabriel, C. J. Hogg & K. Belov (2025): Genome-wide diversity and MHC characterisation in a critically endangered freshwater turtle susceptible to disease. – Immunogenetics 77(1): 21.
Genomweite Diversität und MHC-Charakterisierung bei einer vom Aussterben bedrohten Süßwasserschildkröte, die für Krankheiten anfällig ist.
DOI: 10.1007/s00251-025-01378-8 ➚

Emydura macquarii,
© Bruce C. Chessman
Kleine, isolierte Populationen sind oft anfällig für Inzucht und genetische Drift, die beide das Risiko des Aussterbens erhöhen. Die Bellinger-Flussschildkröte (Myuchelys georgesi) ist eine stark gefährdete Art, die nur in einem einzigen Flusseinzugsgebiet in New South Wales, Australien, vorkommt. Die einzige noch existierende Wildpopulation und das Zuchtprogramm sind durch Virenausbrüche stark bedroht, vor allem durch einen Nidovirus-Ausbruch im Jahr 2015, der zu einem Rückgang der Population um 90 % führte. Um unser Verständnis der genomischen Merkmale der Art, einschließlich der genomweiten und funktionalen Gendiversität, zu verbessern, haben wir 31 resequenzierte Genome von reinen M. georgesi (N = 31) neu sequenziert, zusammengestellt und analysiert. Wir haben den Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) manuell annotiert, fünf MHC-Klasse-I- und zehn MHC-Klasse-II-Gene identifiziert und die genetische Vielfalt in beiden Klassen bei M. georgesi untersucht. Unsere Ergebnisse zeigten, dass die genomweite Diversität bei reinen M. georgesi kritisch niedrig ist, was durch den Vergleich mit opportunistisch beprobten Rückkreuzungstieren – Nachkommen von F1-Hybriden (M. georgesi × Emydura macquarii), die mit reinen M. georgesi rückgekreuzt wurden (N = 4) – deutlich wurde. Die innerhalb der MHC-Kernregion von reinem M. georgesi beobachtete Variation, die sich über Gerüst 10 erstreckt, übertraf jedoch die aller anderen Makrochromosomen. Darüber hinaus wurden nach dem Nidovirus-Ausbruch 2015 keine signifikanten kurzfristigen Veränderungen der genomweiten oder immungenetischen Vielfalt festgestellt (vorher; N = 19, nachher; N = 12). Rekonstruktionen der demografischen Entwicklung zeigten einen anhaltenden, langfristigen Rückgang der effektiven Populationsgröße seit der letzten Zwischeneiszeit, begleitet von einem starken Rückgang in jüngerer Zeit. Diese Muster deuten darauf hin, dass die anhaltende Isolation und der Rückgang der Populationsgröße die Dynamik der genomweiten Vielfalt erheblich beeinflusst haben. Es ist wahrscheinlich, dass die heutigen Stressfaktoren, einschließlich des jüngsten Nidovirus-Ausbruchs, auf eine bereits genetisch dezimierte Population einwirken. Diese Studie bietet neue Einblicke in die genomweite und immunologische Gendiversität, einschließlich Daten zur Annotation von Immunitätsgenen, die eine breitere Bedeutung für Testudinen haben. Diese Ergebnisse liefern wichtige Informationen zur Unterstützung künftiger Managementstrategien für diese Art.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Diese Arbeit ist eine der ersten die für eine Schildkrötenart den MHC-Komplex im Detail untersucht. In Anlehnung an das Wissen über MHC-Funktionen bei anderen Tiergattungen und uns Menschen hatte ich schon des Öfteren in den Kommentaren darauf hingewiesen (Gaczorek et al., 2024 und den dortigen Kommentar). In der obigen Arbeit wird nun beschrieben, wie sehr die genetische Diversität bei der artreinen Zuchtpopulation für Myuchelys georgesi abgenommen hat. Dies ist ja insbesondere deshalb von Bedeutung, weil die ursprüngliche wildlebende Populationsgröße durch eine Virusinfektion von ca. 4.000 Individuen auf etwa 200 verbliebene zusammengebrochen war (Nelson et al. 2024). Sicherlich sind auch hier die Autoren bemüht diese Spezies artrein zu erhalten und so in den Nachzuchtprogrammen zu managen, dass die genetische MHC-Komplex-Diversität möglichst hoch bleibt und das adaptive Immunpotenial gegenüber Krankheitserregern möglichst hochzuhalten damit die Individuen eventuell auch wieder eine gewisse Resistenz gegenüber Erregern entwickeln können. Was uns aber aufhorchen lassen sollte ist doch hier auch der Befund, dass die Hybridindividuen aus der Introgression mit Emydura maquarii und den Exemplaren die auf der gemanagten Rückkreuzung mit mit M. georgesi hervorgegangen sind eine wesentlich höhere genetische Diversität aufweisen und eine Resistenz gegenüber diesen Nidovirus aufweisen. Spätestens diese Arbeit sollte jene die sich mit Arterhaltungsnachzucht beschäftigen aufhorchen lassen. Viele argumentieren ja, dass das sogenannte invasive Arten ja auch meist auf einer kleinen Startpopulation ausgehen die eigentlich mit den gleichen Problemen der genetischen Verarmung oder einem sogennanten Flaschenhals zu kämpfen haben, was häufig auch als Invasionsparadox erwähnt wird (Simberloff, 2013), aber invasive Arten haben auch meist einen Vorteil, dass sie in einer neuen Umwelt auf Krankheitserreger treffen, die sich auch erst an einen neuen Wirt anpassen müssen. Insofern gibt es diesbezüglich noch viele Vorgänge, die wir noch nicht ganz verstanden haben. Allerdings beobachten wir in der freien Wildbahn häufiger diese sogenannten natürlichen Hybridisierungszonen die uns nicht nur auf die negativen Auswirkungen, sondern auch auf die positiven Eigenschaften von Introgressionen hinweisen. Ja und wie uns unser eigener Stammbaum aufzeigt, kann sich das langfristig auch als vorteilhaft erweisen. Als Fazit und Empfehlung möchte ich anmerken, dass man sich im Sinne der gemanagten Arterhaltung und des „Langzeitüberlebens“ ein Beispiel an der Natur nehmen und sich möglichst alle Optionen offenhalten (Pennisi, 2016; Bidmon, 2017)!
Literatur
Bidmon, H.-J. (2017): Sind phylogenetische Stammbäume nur ein Traum? – Schildkröten im Fokus 14(1): 14-27 ➚.
Gaczorek, T., K. Dudek, U. Fritz, L. Bahri-Sfar, S. J. E. Baird, F. Bonhomme, C. Dufresnes, V. Gvoždík, D. Irwin, P. Kotlík, S. Marková, P. McGinnity, M. Migalska, J. Moravec, L. Natola, M. Pabijan, K. P. Phillips, Y. Schöneberg, A. Souissi, J. Radwan & W. Babik (2024): Widespread adaptive introgression of MHC genes across vertebrate hybrid zones. – Molecular Biology and Evolution 2024: msae201 oder Abstract-Archiv.
Nelson, H. V., K. A. Farquharson, A. Georges, E. A. McLennan, J. L. Degabriel, M. Giese, C. Ormond, M. McFadden, A. Skidmore, J. Prangell, K. Belov & C. J. Hogg (2024): A genomic framework to assist conservation breeding and translocation success: A case study of a critically endangered turtle. – Conservation Science and Practice 6(10): e13204 oder Abstract-Archiv.
Pennisi, E. (2016): Shaking up the tree of life. – Species were once thought to keep to themselves. Now, hybrids are turning up everywhere, challenging evolutionary theory. – Science 354(6314): 817-821; DOI: 10.1126/science.354.6314.817 ➚.
Simberloff, D. (2013) Invasive Species: What Everyone Needs to Know. – Oxford (Oxford University Press), 329 S.
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Myuchelys georgesi – Bellinger-Schnappschildkröte