Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis, – © Hans-Jürgen Bidmon

Velo-Antón - 2011 - 01

Velo-Anton, G., M. Wink, N.Schneeweiss & U. Fritz (2011): Native or not? Tracing the origin of wild-caught and captive freshwater turtles in a threatened and widely distributed species (Emys orbicularis). – Conservation Genetics 12(2): 583-588.

Einheimisch oder nicht? Die Nachverfolgung der Herkunft für wild gefangene und in Gefangenschaft gehaltene Wasserschildkröten bei einer gefährdeten, aber sehr weit verbreiteten Spezies (Emys orbicularis).

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 Emys orbicularis, Europäische Sumpfschildkröte – © Hans-Jürgen-Bidmon
Europäische Sumpfschildkröte,
Emys orbicularis,
© Hans-Jürgen-Bidmon

Tier- und Nahrungshandel zählen zu den wesentlichen Bedrohungen für viele Schildkrötenarten weltweit. Wir untersuchten hier die Auswirkungen des derzeitigen und vergangenen Handels mit Europäischen Sumpfschildkröten (Emys orbicularis, E. trinacris) in Bezug zu ihrem früheren Verbreitungsmuster. Unter Verwendung umfassender mtDNS-Datensätze für das Cytochrom b wurden die Haplotypen von mehr als 1.550 Individuen abgeglichen, wobei wir die Abstammungszugehörigkeit für wild gefangene allochthone (fremde) und in Gefangenschaft gehaltene Schildkröten für sechs europäische Länder bestimmten. Dabei deckten wir das gesamte Verbreitungsgebiet ab. Wir fanden allochthone Haplotypen in jedem der untersuchten Länder, was zeigt, dass es in der Vergangenheit Verfrachtungen der Schildkröten über große Entfernungen gab, die dem kürzlich erfolgten und auch dem lange zurückliegenden Tierhandel, illegalen Tierentnahmen oder dem Einsammeln in den durch Tourismus geprägten Regionen zuzuschreiben sind. Zusammenfassend identifizierten wir die ursprünglichen Herkunftsgebiete allochthoner Schildkröten sowie zurückliegende und gegenwärtige Handelsrouten. Zusätzlich liefern wir Hinweise für das zukünftige Management zur Erhaltung dieser gefährdeten Art.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Eine sehr aufschlussreiche kurze Arbeit, die sowohl Karten zur natürlichen Verbreitung der einzelnen Haplotypen liefert, als auch welche, die deren derzeitiges Vorkommen einschließlich der vielfältigen allochthonen Fundorte zeigen. Hier wurde insbesondere auch durch den Abgleich mit Proben von Fossilfunden eine gute Zuordnung erreicht. Ebenso wurde auch historische Literatur über Handel und Vorkommen mit in die Interpretation der Befunde einbezogen. Wir wissen sicher alle, dass Sumpfschildkröten insbesondere als Fastenspeise gehandelt, verfrachtet und auch gezüchtet wurden. So wird es niemanden sehr überraschen, dass auch nördlich der Alpen seit langer Zeit Haplotypen aus Italien verbreitet sind, aber auch der für Brandenburg charakteristische Haplotyp IIb im Donaunationalpark zu finden ist und selbst polnische (preußische) Tiere in Spanien und Portugal leben. Außerdem interessant ist, dass man Handelswege für die neuen Bundesländer differenzieren konnte, wobei es historische Wege gibt, dann die Einfuhr aus den ehemaligen Ostblock Urlaubsländern und nun, nach der Wende zeigen sich die Handelswege aus den alten Bundesländern, in denen viele eher westlich und südwestlich verbreitete Hapotypen im Handel und der Tierhaltung waren, die nun auch ihre Wege in die neuen Bundesländer gefunden haben. Insofern eine schöne Arbeit, die uns zum Einen klarmacht, welche Möglichkeiten sich durch die neuen molekularbiologischen Methoden eröffnen, und zum anderen zeigt, welchen Einfluss der Mensch sowohl in der Vergangenheit als auch derzeitig noch in Bezug auf die Umverteilung von Fauna und Flora nimmt. Ich möchte hier bewusst den Begriff der Faunenverfälschung außen vorlassen, denn wir sollten uns immer fragen, was wir damit eigentlich meinen. Da es eine solche Einflussnahme des Menschen wohl zumindest seit dem Auftreten des Homo sapiens sapiens, wenn nicht sogar schon früher gegeben hat, und sich lediglich seit der Zeit des Sesshaftwerdens die Geschwindigkeit beschleunigt und das Ausmaß zugenommen hat, müssen wir uns ernsthaft fragen, was sehen wir als einheimisch oder als natürlich an? Selbst Tiere und Pflanzen, die durch geologische Ereignisse, z. B über geologisch betrachtete temporäre Veränderungen wie Landbrücken auf Inseln eingewandert sind, könnte man als invasiv oder faunenverfälschend betrachten. Doch ergibt das Sinn? Oder besser gefragt müssen wir sie deshalb wieder entfernen? Die Evolution geht ja hoffentlich weiter und zwar mit uns und mit der durch uns manipulierten Umwelt und dazu gehören nun auch solche Vorkommnisse. Bedenken Sie, wie viele als fremd und exotisch zu betrachtende Pflanzen, die auch manchmal verwildern allein in unseren Vorgärten stehen oder mittlerweile als Zuchtformen in der Landwirtschaft ihren festen Platz gefunden haben. Ergibt es wirklich einen Sinn, alles rückgängig machen zu wollen? Denn letztendlich zeigen uns diese Verfrachtungen ja auch, wie anpassungsfähig im hier geschilderten Fall Emys orbicularis oder E. trinacris sind, wenn sie sich so fern ihrer eigentlichen Herkunftsgebiete selbst in der Wildnis behaupten und ansiedeln konnten. Ist es notwendig, ihnen diese Adaptationsleistung abzuerkennen? Nur weil wir der Meinung sind, wir müssten für ein paar menschliche Generationen einen abstrakt erdachten Status Quo aufrecht zu erhalten versuchen, der sowieso entweder durch eine neue Warmzeit und/oder folgende Eiszeit spätestens dann wieder verändert werden wird. Oder ist es vielleicht doch besser zu sagen, „ihr habt es geschafft, euch zu behaupten, ihr könnt bleiben“? Denn wir wissen ja auch nicht, was sich nach deren Ausmerzung entwickeln oder gar ganz für immer verschwinden würde. Sicher muss man nicht mutwillig ohne Notwendigkeit Faunen- und Florenverfälschung betreiben, aber man muss meines Erachtens auch die historische Rolle des Menschen dabei betrachten, wobei sich ja auch gerade viele Arten an den Menschen und seine Aktivitäten angepasst haben, so dass wir viele Arten, die als Kulturfolger bekannt sind, auf diese Art und Weise verbreiten, aber auch wieder auslöschen, wenn wir unsere Boden- und Landbearbeitungstechniken ändern. Letztendlich könnte das auch für Emys orbicularis gelten. Denn, nehmen wir mal die großen Lausitzer Aquakulturlandschaften, wo in der Vergangenheit auch Sumpfschildkröten aus Südeuropa von den Mönchen als Fastenspeise, wenn auch nicht gezüchtet, so doch gehältert wurden, dann könnten wir diejenigen Tiere, die sich dort vielleicht seit Generationen als allochthone Vertreter angesiedelt haben, doch auch als Kulturfolger bezeichnen. Oder? Auch die Befunde aus Spanien und Portugal lassen aufhorchen. Denn vielleicht haben sich ja dort vor Ort auch etliche für den Schutz ihrer E. orbicularis Populationen eingesetzt und versucht, die Bestände vor der „invasiven“ Rotwangen-Schmuckschildkröte zu beschützen (siehe z. b. Polo-Cavia et al. 2010), die jetzt plötzlich erkennen müssen, dass selbst ihre E. orbicularis allochthoner Herkunft sind. Ja selbst bei uns sind die Vorkommen entlang des Rheintals, die dem Haplotyp II zugerechnet werden, sehr wahrscheinlich als allochthon zu betrachten. Wie soll man also so manches aktuell stattfindende Ansiedlungsprojekt diesbezüglich beurteilen? Sie sehen also, es ist gar nicht so leicht zu entscheiden, wie man sich diesbezüglich als Naturschützer und Liebhaber verhalten soll! Aber genau das gefällt mir besonders an dieser Arbeit, denn sie bleibt – wie in so vielen anderen Fällen – bezogen auf Schildkröten nicht abstrakt, weil es meist um Arten geht, deren Lebensräume weit entfernt liegen. Nein, hier haben wir einen konkreten Fall, der auch uns hier in Deutschland direkt betrifft und der zumindest diejenigen, die sich aktiv für Naturschutz und Sumpfschildkrötenerhaltung engagieren, zu einer Stellungnahme zwingt: Nämlich, wie wir in Bezug auf die Erhaltung bzw. Wiederansiedlung zukünftig vorgehen wollen. Sicher werden jetzt einige wieder sagen, das werden uns die Wissenschaftler und die zuständigen Behörden schon vorschreiben. Aber warum eigentlich – wenn wir uns doch meist ehrenamtlich oder finanziell an solchen Aktionen beteiligen sollen? Denn eine breite gesellschaftlich akzeptable Strategie ist in einer pluralistischen Gesellschaft alle Male besser, als sich nach dem auch nicht immer richtig sein Müssenden Diktat der so genannten Fachleute zu richten. Denn wer kann sich heute schon als Fachfrau/mann für Evolutionsentwicklung bezeichnen? Ganz sicher noch weniger als jene, die uns sowohl in der Vergangenheit als auch heute noch vorrechnen wollen, wie sicher Kernenergie ist, oder wo der Ort auf diesem Planeten liegt, an dem in den nächsten 1,4 Millionen Jahren kein Erdbeben oder neue durch Eiszeiten bedingte tektonische Verschiebungen der Erdkruste auftreten, um dort das Endlager für all die Brennstäbe mit einer Halbwertszeit von 140.000 Jahren einzurichten.

Literatur

Gracia, E., A. Gimenez, J. D. Anadon, F. Botella, S. Garcia-Martinez & M. Marin (2011): Genetic patterns of a range expansion: The spur-thighed tortoise Testudo graeca graeca in southeastern Spain. – Amphibia-Reptilia 32(1): 49-61 oder Abstract-Archiv.

Polo-Cavia N., A. Gonzalo1, P. López & J. Martín (2010): Predator recognition of native (Euopean Pond) but not invasive turtle predators (red-eared sliders) by naïve anuran tadpoles – Result- sliders out compete native turtles for food. – Animal Behaviour 80(3): 461-468 oder Abstract-Archiv.

Vamberger, M., C. Corti, H. Stuckas & U. Fritz (2011): Is the imperilled spur-thighed tortoise (Testudo graeca) native in Sardinia? Implications from population genetics and for conservation – Amphibia-Reptilia 32(1): 9-25 oder Abstract-Archiv.

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