Caballero, A., I. Bravo & J. Wang (2017): Inbreeding load and purging: implications for the short-term survival and the conservation management of small Populations. – Heredity 118(2): 177-185.
Die Belastung durch Inzucht und deren Verringerung: Auswirkungen auf das Kurzzeit-Überleben und das Erhaltungsmanagement für kleine Populationen.
Unter Anwendung von Computersimulationen untersuchten wir die Auswirkungen der sogenannten „Genetischen Bereinigung” der Belastungen, die sich durch Inzucht bei sehr kleinen Populationen ergeben, indem wir genetische Modelle für schädigende Mutationen – die sich typischer Weise bei Inzucht anreichern und die aus empirischen Beobachtungen bekannt sind – modellierten. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die genetische Bereinigung (Ausdünnung) die Belastung, die sich aus der Anreicherung schädigender Mutationen bei Inzucht einstellt, effektiv verringert, wobei sowohl letale (tödliche) wie nicht-letale Mutationen ausgedünnt werden. Letzteres trägt dazu bei das Ausmaß der Inzuchtdepression relativ zu dem Vergleichsmaß unter Ausschluss einer Selektion zu verringern. Wir zeigen, dass die effektive minimale Populationsgröße um eine gravierende Inzuchtdepression während einer Kurzzeit-Überlebenszeit zu verhindern, in der Größenordnung von Ne ≈ 70 für eine große Spannbreite der Reproduktionsraten von Wirbeltieren liegt. Wir führten ebenso Simulationen für Erhaltungszuchtpopulationen unter menschlicher Obhut durch, indem wir zwei gegensätzliche Managementmethoden verglichen, die üblicherweise eingesetzt werden wobei die eine Inzucht konsequent vermeidet (Ausgleich des elterlichen Beitrags: EC-Methode) und die andere die Inzucht fördert (zirkuläre Geschwisterverpaarung: CM). Wir liefern Belege dafür, dass die CM-Methode ein unakzeptabel hohes Aussterberisiko mit sich bringt und im Ergebnis dazu führt, dass es gegenüber der EC-Methode zu einer hochgradigen Absenkung der genetischen Diversität kommt. Wir schließen daraus, dass man Methoden die darauf abzielen eine genetische Bereinigung durch gelegentliche Inzucht für Erhaltungszuchtprogramme in Gefangenschaft nicht empfehlen kann.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Sicher, auch diese Studie baut auf einem Vorhersagemodell auf, das zwar auf echte in der Realität zu beobachtende Daten für die Anreicherung von schädigenden oder gar direkt tödlichen Mutationen – wie sie sich bei der Kurzzeit-Erhaltung sehr kleiner Populationen anreichern – einbezieht, aber eben immer noch nur ein Modell darstellt. Allerdings zeigt dieses Modell deutlich auf, was genetische Diversität und Genfluss für das Überleben bedeutet und sie liefert klare Daten dafür, welche Konsequenzen sich daraus ergeben und was man unter Kurzzeit-Überleben versteht. Ebenso schlägt sie eine Erhöhung der „Minimalen Populationsgröße“ zur Vermeidung von Inzuchtdepression vor.
Was bedeutet das konkret? Nun, konkret bedeutet Kurzzeit-Überleben eine Überlebenszeit von 50 Generationen. Wenn sie das für den Menschen anwenden der etwa 25 Jahre pro Generation hat, wären das ca. 2.000 Jahre. Bei Tieren mit entsprechend geringeren Generationszeiten entsprechend weniger. Zudem sollte man sich klarmachen was die Autoren mit genetischer Bereinigung oder Ausdünnung meinen. Unter genetischer Bereinigung (genetic purging) versteht man den Einfluss der natürlichen Selektion, die dazu führt, dass Nachkommen (auf Schildkröten bezogen Schlüpflinge), die schon zu viele unvorteilhafte Mutationen angesammelt haben, ausselektioniert werden – sprich unter natürlichen Lebensbedingungen versterben bevor sie selbst Nachkommen zeugen. Letzteres führt dazu, dass die Individuen, die die meisten schädigenden Mutationen weitervererben würden, vorher versterben und es somit zu einer Verlangsamung bei der Zunahme solch schädigender Mutationen kommt, da sich nur Tiere mit geringerer Anzahl schädlicher Mutationen noch aktiv fortpflanzen. An diesem Punkt hakt es oft bei den Erhaltungszuchtprogrammen unter menschlicher Obhut bedrohter Arten, weil man eben geneigt ist durch Hilfestellung und mit veterinärmedizinischer Intervention auch schwächelnde Individuen zu erhalten, aufzuziehen und weiter zu vermehren. Letzteres kann fatale Folgen für den Kurzzeit-Populationserhalt haben.
Derzeit geht man davon aus, dass die minimale Populationsgröße Ne ∼ 50 Individuen betragen sollte. Die Autoren zeigen aber, dass eigentlich 100 bis 142 Individuen notwendig wären, um diese Kurzzeit-Erhaltung zu gewährleisten, ohne dass es zu einer deutlichen genetischen Bereinigung kommt. Wenn man eine konsequente genetische Bereinigung zulässt, kann die Anzahl der Exemplare, die man für eine minimale Populationsgröße benötigt, auf etwa 70 Individuen (Ne ∼ 70) absinken (wenn sie sich auf der Roten Liste mal die 50 bedrohtesten Schildkrötenarten ansehen werden sie feststellen, dass es für etliche dieser Arten eine solche Anzahl an Individuen gar nicht mehr gibt). Aber auch dann sprechen die Daten eben nur für ein Überleben für 50 Generationen. Nun hat sich aber die einmal eingeschlagene Evolutionslinie der Schildkröten nachweislich anhand der Fossilfunde über etwa 229 Millionenjahre erhalten, auch wenn immer wieder einzelne Formen (das Wort Arten lasse ich hier bewusst mal weg) ausgestorben sind. Unter Einbezug dieses Wissens kann man verstehen warum viele Wissenschaftler trotz guter Nachzuchterfolge auch bei Schildkröten (siehe Milinkovitch et al. 2013) davon ausgehen, dass damit deren Langzeitüberleben längst nicht als gesichert angesehen werden kann. Oder ist so manche Freude über – ich möchte fast schon angesichts der Datenlage – ultrakurze Überlebenseinschätzung für manche Arten das alleinige Ziel (Shoemaker et al. 2013) zur Selbstrechtfertigung? Allein deshalb sollten wir die Erhöhung der genetischen Diversität bei kleinen Populationen durch Hybridisierung und Introgression nicht unbeachtet lassen, denn die Tiere (Lebewesen) zeigen uns selbst in der freien Natur wie sie sich aus solchen genetischen Sackgassen (natürlich unbewusst) zu befreien wissen (siehe Kommentare zu Renner 2016). Ja, sie zeigen uns ja gerade was sie sozusagen „zum Überleben“ brauchen, denn in guten stabilen Populationen finden wir oft selbst bei sympatrischem Vorkommen mehrerer Arten der gleichen Gattung so gut wie keine Hybriden, es kann sogar im Gegenteil zu einer sogenannten Sympatrischen-Artenbildung kommen. Erst wenn für eine der Arten ein gewisses Minimum an potentiellen Geschlechtspartnern unterschritten wird scheinen sie sich auch mit phylogenetisch weniger verwandten Geschlechtspartnern einzulassen. Ebenso geschieht das häufig durch menschliche Eingriffe in die Natur, in dem wir trennende Barrieren entfernen und einstmals getrennte Flüsse oder Seen über Kanäle verbinden oder indem wir Arten von einem Kontinent zum anderen verfrachten.
Nun ich will keine Schwarzmalerei betreiben, denn wie oben erwähnt handelt es sich um Modellvorhersagen. Aber ich denke, wer nicht nur an seine eigene Überlebenszeit denkt sondern wirklich Erhaltungszucht mit Langzeitüberlebenspotential realisieren will, der sollte auch das volle Ausmaß der biologischen Möglichkeiten sinnvoll mit einbeziehen und aus den neuen Erkenntnissen lernen.
Literatur
Milinkovitch, M. C., R. Kanitz, R. Tiedemann, W. Tapia, F. Llerena, A. Caccone, J. P. Gibbs & J. R. Powell (2013): Recovery of a nearly extinct Galapagos tortoise despite minimal genetic variation. – Evolutionary Applications 6(2): 377-383 oder Abstract-Archiv.
Renner, S. S. (2016): A Return to Linnaeus's Focus on Diagnosis, Not Description: The Use of DNA Characters in the Formal Naming of Species. – Systematic Biology 65(6): 1085-1095 oder Abstract-Archiv.
Shoemaker, K. T., A. R. Breisch, J. W. Jaycox & J. P. Gibbs (2013): Reexamining the Minimum Viable Population Concept for Long-Lived Species. – Conservation and Biology 27(3): 542-551 oder Abstract-Archiv.