Krochmal, A. R., T. C. Roth & N. T. Simmons (2021): My way is the highway: the role of plasticity in learning complex migration routes. – Animal Behaviour 174(2): 161-167.
Mein Weg ist meine Autobahn: Die Rolle von Plastizität beim Erlernen von komplexen Wanderrouten.
DOI: 10.1016/j.anbehav.2021.02.005 ➚
Für viele Arten sind Lernvorgänge eine wichtige Komponente um in komplexen vielfältigen Landschaftsformation während ihrer Wanderungen zu navigieren. Obwohl es zu etlichen Fortschritten in Bezug auf die Erkenntnisse kam, die dazu beitragen sowohl die Flexibilität in Bezug zur Habitatauswahl und den Navigationsleistungen innerhalb komplexer Habitate zu erkennen, bleibt die wichtige Rolle die dabei der Verhaltensplastizität während dieser Wanderungsaktivitäten zukommt unklar. Denn empirische, experimentelle Untersuchungen sind nur schwer durchzuführen und es ist schwierig die wildlebenden Tiere während der Wanderungen zu kontrollieren und zu manipulieren und gleichzeitig deren Wanderungen aufzuzeichnen. Um diese Rolle der Verhaltensplastizität direkt während der Wanderungen zu adressieren manipulierten wir das Verhalten von Östlichen Zierschildkröten, Chrysemys picta, die lange Wanderstrecken alljährlich zurücklegen und dazu immer die gleichen komplexen Wanderrouten sehr präzise einhalten, die sie während einer prägenden Jugendperiode vor Vollendung des 4. Lebensjahres erlernt hatten. Wir führten dazu eine Reihe von Freilandexperimenten während unterschiedlicher saisonaler und kontextabhängiger experimenteller Bedingungen während ihrer Entwicklung durch, um die Hypothese zu testen, dass die adulten Schildkröten dazu ein festgeschriebenes, räumliches Gedächtnis nutzen welches auf kognitiven Erfahrungen aufbaut die vor dem Alter von 4 Jahren erworben wurden um damit zu zeigen, dass die Tiere diese Plastizität nur bis zu einem Alter von 4 Jahren zeigen. Wir fanden eine hohe Plastizität in Bezug auf die Wanderrouten bei diesen jungen Schildkröten, wobei junge Schildkröten noch in der Lage waren jeder Wanderroute mit hoher Präzision zu folgen und zwar unabhängig von den Streckenunterschieden, der Saison und der Richtung. Andererseits waren erfahrene Adulti nur noch in der Lage ihrer eignen Route zu folgen und sie waren nicht mehr in der Lage Wanderrouten zu folgen mit denen sie keine Vorerfahrungen gemacht hatten. Diese Muster waren konsistent zu beobachten und zwar unabhängig von der Saison und der Bewegungsrichtung. Unerfahrene umgesiedelte Adulti waren zu jeder Jahreszeit unfähig einer unbekannten Route zu folgen. Zusammenfassend zeigen diese Ergebnisse eine Übereinstimmung mit zahlreichen Einzelstudien zur Langstreckenwanderung die auch mit anderen Mustern in lernabhängigen Systemen (z.B. Gesangslernen) beobachtete wurden, bei denen die dazu notwendige Plastizität nur während einer bestimmten, kritischen Jugendperiode vorhanden ist. Zukünftige Studien sollten die Mechanismen die offensichtlich dieser Migrationsplastizität zugrunde liegen adressieren und sollten auch die Bedeutung dafür erarbeiten wie die Tiere reagieren um ein Verständnis dafür zu entwickeln wie sie in diesen komplexen Umwelten navigieren.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Diese Übersichtszusammenstellung über die zahlreichen Studien der Autoren adressiert sicher einen wichtigen Aspekt, den wir auch vorher schon diskutiert haben (siehe dazu Roth & Krochmal, 2016; 2018; Roth et al., 2019 und die dortigen Kommentare). Dennoch möchte ich hier darauf verweisen, dass es zwar bestimmte kritische Phasen zum Erlernen verschiedenster Parameter und Eigenschaften gibt, die auch häufig mit dem Jugendalter streng assoziiert sind, die aber dennoch nicht ganz erlöschen, wenn sie für die Adulti sowie vielleicht auch dem Populationserhalt dienen. (An Letzteres erinnert auch der viel zitierte Ausspruch der Juden im alten Odessa der da lautete: Wer bis zum vierten Lebensjahr nicht Geige spielen kann wird nie ein Geigenvirtuose und sollte es besser nur mit einer Schriftstellerkarriere versuchen
). Auch bei Schildkröten sollte man berücksichtigen, dass zumindest adulte Weibchen durchaus zu weitentfernten Nistplätzen durch komplexe Landschaftsformationen wandern können, wobei sie dabei anscheinend durchaus auch umlernen können, wenn alt angestammte Nistplätze durch Landschaftsveränderungen verloren gehen und sie neue Nistplätze suchen und sich merken müssen. Insofern scheinen bestimmte saisonale oder biologisch überlebenswichtige plastische Lernvorgänge lebenslang erhalten zu bleiben siehe auch Burns et al. (2020) und den dortigen Kommentar). Vielleicht sind diese Wanderungen zu Nistplätzen sowie die Auswahl der Nistplätze dadurch möglich, da sie durch bestimmte mit der Reproduktion assoziierten Hormonen oder hormonellen Veränderungen mitgesteuert werden. Allerdings scheint mir, dass sich der oben für Chrysemys picta beschriebene altersbedingte Verlust an Wanderroutenplastizität, der ja nichts mit der überlebenswichtigen Reproduktion zu hat, auch aus energetischen Gründen erklären ließe, da es für die Tiere ja völlig unnormal ist, dass sie jemand aus ihrer angestammten „Heimatumwelt“ jemals umsiedeln könnte. Plastizität kostet nämlich auch Energie. Letzteres wird ja auch bei den sogenannten „Song Nuclei“ der Vögel deutlich (z. B. Kanarienvogel) in dem bei den Männchen jedes Jahr zur Reproduktionssaison ein neues Wachstum durch die Bildung neuer Nervenzellen in diesen Hirnregionen stattfindet, die danach wieder abgebaut werden, da sie im Winter wohl nur zu viel Energie verbrauchen würden (z. B. Ball & Balthazart, 2020; Madison et al., 2020). Sicher eine Sichtweise die gerade in Bezug auf Kognition und Conciousness in Bezug zur Umwelt viel diskutiert wird und das sollte, wenn wir auch Tieren ein Bewusstsein zugestehen wollen nicht vergessen werden (siehe dazu auch Northoff & Lamme, 2020. Northoff et al., 2019), denn jedes Lebewesen muss ja eine Beziehung zu seiner Umwelt herstellen können um innerhalb dieser zu exsistieren.
Dafür spricht auch, dass diese Lernfähigkeit nicht nur wie im obigen Beispiel populationsspezifisch auftritt, sondern es deutet sich an, dass diese Art des Routenlernens auch artspezifisch sein kann. Denn wenn die äußerst interessanten Beobachtungen von Xiao et al. (2021) bei der Großkopfschildkröte, Platysternon megacephalum so zutreffen, dann müsste auch unter Einbezug der Landschaftsformationen in denen diese Großkopfschlildkröten mehr oder weniger territorial leben eine lebenslange Wanderroutenplastizität erhalten bleiben, wobei die dann auch unabhängig von der jeweils notwendigen Wanderrichtung zu sein scheint! Hier müsste man also davon ausgehen, dass diese essentiell territoriale Lebensweise die Tiere dazu zwingt diese Plastizitätseigenschaften ein Leben lang aufrecht zu erhalten. Vielleicht weil es zu ihrer komplexen Umwelt dazugehören mag, dass sie bei schweren Monsunregenfällen über den Bergwäldern durchaus mit dem Hochwasser in unbestimmter Weise verdriftet werden können und danach wieder zurück zu ihrem angestammten Territorium zurückfinden müssen, wenn sie nicht den andernfalls anfallenden innerartlichen Stress zum Opfer fallen wollen. Liebe Leser*innen sie sehen es bleibt also spannend was es noch so bei den verschiedensten Schildkrötenarten zu entdecken gibt und für mich bleiben solche Studien wirklich im Vergleich zu rein taxonomischen Abhandlungen die Lesenswerteren und Wesentlicheren! Sie fragen sich warum: Nun, weil Einordnungen oftmals subjektiv und abstrakt sind und eigentlich immer einen adaptiven Wandel unterworfen bleiben und weil sich das was wir unter dem Begriff Conciousness, der im Deutschen meist mit Bewusstsein übersetzt wird, bis heute völlig unklar geblieben ist und sich jeglicher, exakter wissenschaftlicher Untersuchung verweigert hat (siehe dazu auch Cleeremans, A. 2021: https://www.youtube.com/watch?v=Q78UL1gYhXI&list=PLpCH1XIO3lYtRELTupGHOfrbylNlPhPKR ➚). Denn mit Intelligenz und Wahrnehmung ist er nicht gleichzusetzten, sodass man höchstens davon ausgehen kann, dass dieses Phänomen als Grundvoraussetzung auf einer Möglichkeit zur individuellen Selbstwahrnehmungsbefähigung (Selbstbewusstsein) basiert. Allerdings ist letzteres auch eine adaptive Grundvoraussetzung zur Gefahrenvermeidung. Um nur eines der unzähligen Beispiele aufzugreifen, gehört auch zu einem adäquaten Fluchtverhalten, dass jedes Individuum eine Beziehung zwischen sich und der aktuellen Umweltsituation sehr schnell und oftmals präzise herstellen können muss, um überhaupt ein solch überlebenswichtiges Verhalten initiieren und ausführen zu können. Da man aber schon heute z. B. ein solches Verhalten einer programmierbaren, selbstlernenden Maschine beibringen kann und sie es selbst durch dazulernende Algorithmen verbessern kann, sollte man sich ernsthaft überlegen ob diese Begriffe mit den Definitionen die wir ihnen zuweisen überfrachtet sind und wir eigentlich ein ganz anderes Phänomen damit erklären wollen dessen Definition und Beschreibung bislang für alle (auch der Molekulargenetik) ganz im Unklaren geblieben ist und auch weiterhin bleiben wird welches wohl besser als „Essenz des Lebendigen“ umschrieben werden könnte, weil eben nur belebte Materie selbstreflektierend dabei auch empfinden kann (siehe dazu auch Szabo et al., 2020 und den dortigen Kommentar). Wenn wir uns aber dieser Essenz zuwenden wollen sollten wir aber einsehen, dass wir uns dann von der reinen, exakten Form sowie Reproduzierbarkeit der wissenschaftlichen Analyse und Formbeschreibung verabschieden müssen und uns eher einer spirituellen Synthese der universellen Denkweise zuwenden sollten wie sie uns, um nur ein Beispiel zu nennen, in dem Buch von M. H. Niemz (2020) mit dem Titel „Bin ich, wenn ich nicht mehr bin“ angedeutet werden. Um zu solchen Einsichten zu kommen liefert zwar die Wissenschaft die formalen Fakten aber sie stößt dabei dann auch klar an ihre Grenzen, die sie aufgrund ihrer eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeit nicht überschreiten kann.
Literatur
Ball, G. F, & J. Balthazart (2020): Sex differences and similarities in the neural circuit regulating song and other reproductive behaviors in songbirds. – Neuroscience & Biobehavioral Reviews 118: 258-269; DOI: 10.1016/j.neubiorev.2020.07.026 ➚.
Burns, T. J., R. R. Thomson, R. A. McLaren, J. Rawlinson, E. McMillan, H. Davidson & M. Kennedy (2020): Buried treasure – marine turtles do not ‘disguise’ or ‘camouflage’ their nests but avoid them and create a decoy trail. – Royal Society Open Science 7(5): 200327 oder Abstract-Archiv.
Madison, F. N., N, Shah & G. F. Ball (2020): Intraspecific variation in testosterone-induced neuroplasticity in two canary strains. – Hormones and Behavior 118(2): 104617; DOI: 10.1016/j.yhbeh.2019.104617 ➚.
Northoff, G. & V. Lamme (2020): Neural signs and mechanisms of consciousness: Is there a potential convergence of theories of consciousness in sight? – Neuroscience & Biobehavioral Reviews 118: 568-587; DOI: 10.1016/j.neubiorev.2020.07.019 ➚.
Northoff, G., S. Wainio-Theberge & K. Evers (2019): Is temporo-spatial dynamics the "common currency" of brain and mind? In Quest of "Spatiotemporal Neuroscience". – Physics of Life Reviews 33: 34-54; DOI: 10.1016/j.plrev.2019.05.002 ➚.
Roth, T. C. II, A. R. Krochmal & L. D. LaDage (2019): Reptilian Cognition: A More Complex Picture via Integration of Neurological Mechanisms, Behavioral Constraints, and Evolutionary Context. – Bioessays 41(8): e1900033 oder Abstract-Archiv.
Roth, T. C. II & A. R. Krochmal (2018): Of molecules, memories and migration: M1 acetylcholine receptors facilitate spatial memory formation and recall during migratory navigation. – Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 285(1891) oder Abstract-Archiv.
Roth, T. C. II & A. R. Krochmal (2015): The Role of Age-Specific Learning and Experience for Turtles Navigating a Changing Landscape. – Current Biology 25(3): 333-337 oder Abstract-Archiv.
Szabo, B., D. W. A. Noble & M. J. Whiting (2020): Learning in non-avian reptiles 40 years on: advances and promising new directions. – Biological reviews of the Cambridge Philosophical Society 96(2): 331-356 oder Abstract-Archiv.
Xiao, F., R. Bu, L. Lin, J. Wang & H. Shi (2021): Home-site fidelity and homing behavior of the big-headed turtle Platysternon megacephalum. – Ecology and Evolution 11(11): 5803-5808 oder Abstract-Archiv.
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Chrysemys picta – Zierschildkröte