Jangtse-Riesenweichschildkröte, Rafetus swinhoei, ein weibliches Exemplar – © Gerald Kuchling

Luiselli - 2024 - 02

Luiselli, L., O. Le Duc, T. P. Van, T. N. Xuan,Mp. B. Dang, G. Kuchling, B. Leprince, H.-T. Shi, L. Mccaskill & P. Giovacchini (2024): A threat analysis for the world's most threatened turtle (Rafetus swinhoei). – Journal for Nature Conservation 78(1): 126577.

Eine Gefährdungsanalyse für die am stärksten bedrohte Süßwasserschildkröte der Welt (Rafetus swinhoei).

DOI: 10.1016/j.jnc.2024.126577 ➚

Jangtse-Riesenweichschildkröte,
Rafetus swinhoei,
© Gerald Kuchling

Wir haben eine umfassende Analyse der Bedrohungen für Swinhoes Weichschildkröte (Rafetus swinhoei) durchgeführt, der am stärksten gefährdeten Süßwasserschildkröte der Welt, die früher in Flusssystemen in Vietnam und China vorkam, heute aber so gut wie ausgestorben ist. Unser Ziel war es, die Belastungen entlang zweier großer Flüsse in Vietnam (Schwarzer und Roter Fluss, die beide bis nach Yunnan, Volksrepublik China, reichen) zu ermitteln und einen konzeptionellen Rahmen zu schaffen, um die kausalen Beziehungen zwischen den treibenden Kräften, den Bedrohungen und der Zielart zu verstehen. Wir haben ein Expertengremium hinzugezogen, das zwei vorrangige direkte Bedrohungen in Vietnam identifiziert hat, die nach der Standardtaxonomie der IUCN klassifiziert sind und den höchsten Gefährdungsgrad aufweisen (als Indikator für den Bedrohungsdruck): (i) Lebensraumverlust an Nistplätzen (LOS; Code 1.2 - Gewerbe- und Industriegebiete) und (ii) Landumwandlung aufgrund von Siedlungen (LAN; Code 1.1 - Wohn- und Stadtgebiete). Die Bedrohungen wiesen entlang beider Flüsse ein vergleichbares (d. h. nicht signifikant unterschiedliches) Ausmaß auf (MannWhitney-U-Test). Die Experten identifizierten auch die zugrunde liegenden treibenden Kräfte hinter diesen Bedrohungen: (i) demografische Faktoren (aufgrund eines raschen Bevölkerungswachstums in den letzten Jahrzehnten), die LAN und LOS als vorrangige Bedrohungen verursachen, aber auch Sandabbau und Wasserverschmutzung; (ii) wirtschaftliche Faktoren, die durch die hohe Armut der lokalen Bevölkerung verursacht werden sowie das Abfangen (Fischereiaktivitäten und die damit verbundene Vermarktung) aber auch der Bedarf an Energie für wirtschaftliche Aktivitäten (z. B. Staudämme) sowie Freizeitaktivitäten wirken sich bedrohlich aus. Als drittes kommen ethische Faktoren im Zusammenhang mit den Projektteams für den Naturschutz hinzu wie begrenzte Mittel sowie unterschiedliche Auffassungen über die zu verfolgenden Strategien). Vorläufige Daten für China deuten auf HAR (Fang durch einheimische Fischer; Code 5.4) und POL (Wasserverschmutzung; Code 9.2) als vorrangige Bedrohungen hin. Die Bedrohungsanalyse ist ein nützliches Instrument in der Anfangsphase eines Erhaltungsprojekts im Rahmen der Kontextanalyse und hilft bei der Festlegung von Prioritäten für die Erhaltung und Bewirtschaftung.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Diese Arbeit verweist eigentlich auf eine komplexe, multifaktorielle Gefährdungslage, wie wir es schon von vielen Regionen weltweit kennen gelernt haben (siehe auch Luiselli et al., 2024; Pham et al., 2020). Auch hier für diese Flusssysteme gibt es fast vergleichbare Gefährdungskriterien mit hoher Priorität, wobei aufgrund der dichten Besiedlung und wirtschaftlichen Nutzung auch die Wasserverschmutzung besonders hervorgehoben wird [Allerdings auch hier würde ich POL als die Abkürzung des englischen Begriffs pollution (Verschmutzung) ummünzen wollen und zwar als Abkürzung für Politik]. Es sind politische Entscheidungen, die zu diesen desaströsen Gefährdungslagen geführt haben und auch weiterhin führen. Ja, und im Wesentlichen würde ich meinen, es können auch nur politische Entscheidungen sein, die wirklich eine Verbesserung der Situation bringen könnten. Letztere sind durchaus bekannt und mancherorts werden auch entsprechende politische Entscheidungen zugunsten des Biodiversitätserhalts beschlossen, aber ob sie deshalb einen nachhaltigen Bestand haben, bleibt weiterhin mehr als fraglich (siehe Golden-Kroner et al. 2019). Selbst hier in Europa sehen wir, wie gerade Naturschutzmaßnahmen, die man für die Agrarwirtschaft beschlossen hatte, aufgrund der Proteste wieder zurückgenommen werden (Navarro & López-Bao, 2024). Dabei gefährden die Betroffenen langfristig sogar ihre eigenen Lebensgrundlagen. Aber vielleicht ist das ja langfristig gedacht auch so gewollt, denn die Gesellschaft wird ja nicht zwangsweise intelligenter und wenn die Bestäubungsleistung durch Insekten wegfällt könnte das ja zu neuen Mindestlohnarbeitsplätzen als Bestäuber führen so wie wir das aus einigen Obstanbauregionen Chinas heute schon kennen (Nicholson et al., 2024). Wenn so etwas hierzulande schon so gehandhabt wird, wie können wir dann erwarten, dass sich die sogenannten Schwellenländer anders entscheiden sollten. Was mir dabei auch auffällt ist, dass man solche Gefährdungslagen nur unter quantitativen Gesichtspunkten zunehmend zu bearbeiten versucht, obwohl die Überprüfung durch die Arbeit vor Ort im Freiland wohl essentiell bleiben sollte, weil der lokale Kontext für die jeweilige Population deren lokale Existenz bestimmt hat und auch weiterhin bestimmen wird (siehe dazu auch Mantegna, 2024). Eigentlich wird, wenn wir es einmal auf die einzelne Art herunterbrechen, klar, dass sehr wahrscheinlich nur artifizielle Erhaltungsmaßnahmen nutzbar sind, wie sie in Zoos durchgeführt werden können (z. B. Kuchling, 2006). Sicher gibt es Ausnahmen wie die Arbeiten von Platt et al. (2022) zeigen, aber da gerade unsere aquatischen Lebensräume auch im Zuge des Klimawandels immer mehr vielleicht sogar zwangsläufig von Menschen genutzt werden müssen, werden es gerade die darauf angewiesenen Arten schwer haben und wohl kaum darauf warten können, dass sich die Situation zu ihren Gunsten verändern wird (siehe dazu auch aktuell Pereira et al., (2024a); Langhammer et al., 2024). Gerade die zuletzt genannten Autoren drücken sich zwar sehr positiv aus, um die Hoffnung aufrechtzuerhalten, kommen aber dennoch zu dem Schluss, dass nur etwa die Hälfte der Erhaltungsmaßnahmen einen positiven Trend zeigen, dass sie den Biodiversitätsverlust aber nur verlangsamen aber nicht stoppen! Hier scheint sich auch schon seit dem Beginn der Menschheit ein kontinuierlicher Rückgang im Fossilrekord abzuzeichnen (siehe dazu Pereira et al., 2024b). Schildkröten hatten ja schon vor Darwin einen erheblichen Einfluss auf die Philosophie wie der Einführung zum 2. Kapitel von „The Sentient Cell“ (Reber et al, 2023) zu entnehmen ist, aber dieses dort geschilderte Gleichnis der Schildkrötenpyramide wird wohl zukünftig sehr viel kürzer ausfallen oder gar ganz obsolet, wenn die großen Spezies der Chelonia zunehmend verschwinden. Ich denke langfristig muss dieser Planet darauf warten, dass das, was uns aus moralischen Gründen verwehrt bleiben muss, sich dahingehend verändert, dass es zu einer merklichen Abnahme der Bevölkerungsdichte kommt. Denn was uns der Beginn der COVID-19 Pandemie gelehrt hat reagieren wir selbst nur auf Katastrophen, die wie die Geschichte unserer Erde zeigt unausweichlich näher rücken werden (siehe dazu auch Bidmon, 2023 sowie die Kommentare zu Szabo et al., 2020 und Cohen & Mark, 2021).

Literatur

Bidmon, H.-J. (2023): Das Schildkrötenjahr 2023. Abstract-Archiv.

Cohen, J. I. & H. Mark (2021): „Real-World“ Experience: Consequences of Anthropocene Extinctions & Biodiversity Declines. – The American Biology Teacher 83(6): 387–394 oder Abstract-Archiv.

Golden Kroner, R. E., S. Qin, C. N. Cook, R. Krithivasan, S. M. Pack, O. D. Bonilla, K. A. Cort-Kansinally, B. Coutinho, M. Feng, M. I. Martínez Garcia, Y. He, C. J. Kennedy, C. Lebreton, J. C. Ledezma, T. E. Lovejoy, D. A. Luther, Y. Parmanand, C. A. Ruíz-Agudelo, E. Yerena, V. Morón Zambrano & M. B. Mascia (2019): The uncertain future of protected lands and waters. – Science 364(6443): 881-886 oder Abstract-Archiv.

Kuchling, G. (2006): An ecophysiological approach to captive breeding of the swamp turtle Pseudemydura umbrina. In: Artner, H., Farkas, B. & V. Loehr (Eds.); Turtles: Proceedings of the International Turtle & tortoise Symposium, Vienna 2002. – Edition Chimaira 196-225 oder Abstract-Archiv.

Langhammer, P. F., J. W. Bull, J. E. Bicknell, J. L. Oakley, M. H. Brown, M. W. Bruford, S. H. M. Butchart, J. A. Carr, D. Church, R. Cooney, S. Cutajar, W. Foden, M. N. Foster, C. Gascon, J. Geldmann, P. Genovesi, M. Hoffmann, J. Howard-McCombe, T. Lewis, N. B. W. Macfarlane, Z. E. Melvin, R. S. Merizalde, M. G. Morehouse, S. Pagad, B. Polidoro, W. Sechrest, G. Segelbacher, K. G. Smith, J. Steadman, K. Strongin, J. Williams, S. Woodley & T. M. Brooks (2024): The positive impact of conservation action. – Science 384(6694): 453-458; DOI: 10.1126/science.adj6598 ➚.

Luiselli, L., G. S. Demaya, J. S. Benansio, S. N. Ajong, M. Behangana, L. Marsili, P. Giovacchini, D. Dendi, J. E. Fa, A. D. Walde & C. Battisti (2024): Searching priorities for a species at the brink of extinction: Threats analysis on the critically endangered Nubian Flapshell Turtle (Cyclanorbis elegans). – African Journal of Ecology 62(2): e13256 oder Abstract-Archiv.

Mantegna, C. (2024): Ecologists: don’t lose touch with the joy of fieldwork. – Nature 628(8009): 692; DOI: 10.1038/d41586-024-01178-2 ➚.

Navarro, A. & J. V. López-Bao (2024): Agribusiness undermines EU green policy. – Science 384 (6692): 169-1770; DOI: 10.1126/science.ado6250 ➚.

Nicholson, C. C., J. Knapp, T. Kiljanek, M. Albrecht, M. P. Chauzat, C. Costa, P. De la Rúa, A. M. Klein, M. Mänd, S. G. Potts, O. Schweiger, I. Bottero, E. Cini, J. R. de Miranda, G. Di Prisco, C. Dominik, S. Hodge, V. Kaunath, A. Knauer, M. Laurent, V. Martínez-López, P. Medrzycki, M. H. Pereira-Peixoto, R. Raimets, J. M. Schwarz, D. Senapathi, G. Tamburini, M. J. F. Brown, J. C. Stout & M. Rundlöf (2024): Pesticide use negatively affects bumble bees across European landscapes. – Nature 628(8007): 355-358; DOI: 10.1038/s41586-023-06773-3 ➚.

Pereira, H. M., I. S. Martins, I. M. D. Rosa, H. Kim, P. Leadley, A. Popp, D. P. van Vuuren, G. Hurtt, L. Quoss, A. Arneth, D. Baisero, M. Bakkenes, R. Chaplin-Kramer, L. Chini, M. Di Marco, S. Ferrier, S. Fujimori, C. A. Guerra, M. Harfoot, T. D. Harwood, T. Hasegawa, V. Haverd, P. Havlík, S. Hellweg, J. P. Hilbers, S. L. L. Hill, A. Hirata, A. J. Hoskins, F. Humpenöder, J. H. Janse, W. Jetz, J. A. Johnson, A. Krause, D. Leclère, T. Matsui, J. R. Meijer, C. Merow, M. Obersteiner, H. Ohashi, A. De Palma, B. Poulter, A. Purvis, B. Quesada, C. Rondinini, A. M. Schipper, J. Settele, R. Sharp, E. Stehfest, B. B. N. Strassburg, K. Takahashi, M. V. Talluto, W. Thuiller, N. Titeux, P. Visconti, C. Ware, F. Wolf & R. Alkemade (2024a): Global trends and scenarios for terrestrial biodiversity and ecosystem services from 1900 to 2050. – Science 384(6694): 458-465; DOI: 10.1126/science.adn3441 ➚.

Pereira, A. G., A. Antonelli, D. Silvestro & S. Faurby (2024b): Two Major Extinction Events in the Evolutionary History of Turtles: One Caused by an Asteroid, the Other by Hominins. – The American Naturalist: Ahead of Print; DOI: 10.1086/729604 ➚.

Pham, T. V., O. Le Duc, B. Leprince, C. Bordes, V. Q. Luu & L. Luiselli (2020): Hunters'structured questionnaires enhance ecological knowledge and provide circumstantial survival evidence for the world's rarest turtle. – Aquatic Conservation Marine and Freshwater Ecosystems 30(1): 183-193 oder Abstract-Archiv.

Platt, S. G., S. H. N. Aung, M. M. Soe, T. Lwin, K. Platt, A. D. Walde & T. R. Rainwater (2022): Reproduction of translocated Geochelone platynota (Testudines: Testudinidae) at two wildlife sanctuaries in Myanmar. – Salamandra 58(2): 161–165 oder Abstract-Archiv.

Reber, A. S., F. Baluska & W. B. Miller (2023): The sentient cell. – Oxford University Press 1-249; DOI: 10.1093/oso/9780198873211.001.0001 ➚.

Szabo, B., D. W. A. Noble & M. J. Whiting (2020): Learning in non-avian reptiles 40 years on: advances and promising new directions. – Biological reviews of the Cambridge Philosophical Society 96(2): 331-356 oder Abstract-Archiv.

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