Strahlenschildkröte, Astrochelys radiata, ein Männchen frisst Blätter des Spindelstrauchs oder Pfaffenhütchens, Euonymus europaeus, – © Hans-Jürgen Bidmon

Spencer - 2011 - 01

Spencer, R.–J. & F. J. Janzen (2011): Hatching Behavior in Turtles. – Integrative and Comparative Biology 51(1): 100-110.

Schlupfverhalten bei Schildkröten.

DOI: 10.1093/icb/icr045 ➚

Strahlenschildkröte, Astrochelys radiata, – © Hans-Jürgen Bidmon
Strahlenschildkröte,
Astrochelys radiata,
© Hans-Jürgen Bidmon

Die Inkubationstemperatur spielt eine wichtige Rolle, indem sie zur Ausbildung des Phänotyps und zur Fitness der Embryonen beiträgt, wobei sie auch die Entwicklungsgeschwindigkeit beeinflusst. Bei vielen Taxa, einschließlich der Schildkröten, werden die Eier in Lagen übereinander abgelegt, so dass thermale Gradienten entstehen, die die Entwicklungsgeschwindigkeit innerhalb eines Nests verändern. Trotz dieser Temperatureffekte zeigt eine Großzahl der Experimente einen durch die Umwelt gesteuerten Schlupf bei Schildkröten, was dazu führte, dass man in vielen Fällen ein eigentlich unerwartetes synchrones Schlupfverhalten beobachtet. Dieser Übersichtsartikel diskutiert die umweltbedingten Faktoren, die zum Schlupf führen, sowie die physiologischen Mechanismen, die zum synchronen Schlupf beitragen. Ebenso adressieren wir indirekte und direkte Ursachen, die dem Schlupfverhalten zu Grunde liegen, sowie Ansätze für zukünftige weiterführende Forschungsansätze. Vier Wasserschildkrötenspezies wurden diesbezüglich experimentell untersucht, wobei der Schlupf bei jeder Art durch unterschiedliche Umweltfaktoren ausgelöst wurde, und die Schildkröten mit verschiedenen physiologischen Mechanismen auf die Umwelt reagieren. Der Schlupf von Gruppen von Schildkröteneiern scheint offensichtlich durch eine Art von Embryo-zu-Embryo-Kommunikation gesteuert zu sein und ist somit nicht nur rein passiv induziert. Obwohl Schildkröten nicht gerade als die Ikonen eines komplexen Sozialverhaltens gelten, so besagt doch die Theorie zu ihrer Entwicklung, dass das Gruppenverhalten innerhalb des Umweltfaktors Nisthöhle zur Evolution eines durch die Umwelt gesteuerten Schlupfverhaltens führt.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Dass Schildkröten nicht gerade als Ikonen eines komplexen Sozialverhaltens gelten, liegt wohl eher daran, dass wir als Wissenschaftler oft nicht wussten, wie man überhaupt Sozialverhalten bei Schildkröten experimentell nachweisen kann und weil wir, was die Beurteilung von Sozialverhalten angeht, viel zu oft von dem Verhalten unser eigenen menschlichen Art ausgehen. Dabei vergessen wir meist, dass andere Arten eben auch andere Lebensräume besiedeln, an die ihr gesamtes Verhalten angepasst sein muss. Es gab zwar Zeiten, in denen Letzteres auch für den Menschen (denken wir an Eskimos) galt, doch seit es auch in den entlegenen Winkeln Supermärkte, Strom und fossile Energieträger gibt, die verheizt werden, hat sich das gewandelt. In Bezug auf Reptilien scheint sich zum Glück auch auf diesem Gebiet etwas zu ändern, wie die Arbeiten von Davis & Burghardt (2011) zeigen. Zurück zum synchronen Schlupf: Synchroner Schlupf hat ja gerade für viele Arten, die mehrere Eier in einem Nest ablegen, die sich dann ohne elterliche Fürsorge entwickeln, Vorteile, da ein asynchroner Schlupf, nachdem der erste Schlüpfling das Nest geöffnet und verlassen hat, die anderen Eier im offenen Nest einer erhöhten Gefährdung aussetzen würde. Insofern ist für solche Arten ein synchroner Schlupf vorteilhaft. Bei Meeresschildkröten mit ihren sehr großen Nestern trägt der so genannte gemeinsame Massenschlupf auch dazu bei, Beutegreifer wie Seevögel zu irritieren, so dass es mehr Schlüpflinge schaffen, das schützende Wasser zu erreichen. Außerdem hat natürlich ein mehr oder weniger synchroner und umweltgesteuerter Schlupf dahingehend Vorteile, dass die Schlüpflinge bei ungünstigen Umweltbedingungen im schützenden Nest relativ inaktiv verharren und von ihren im Darm befindlichen Dotterreserven recht lange zehren können, um erst dann zu schlüpfen, wenn es die Umweltbedingungen erlauben. Letzteres gilt für Wasser- und Landschildschildkröten. Wie im oben beschriebenen Fall scheint für manche Spezies ein gemeinsamer Schlupf so essentiell zu sein, dass selbst die Wachstumsraten kühler inkubierender Schlüpflinge jenen der wärmer platzierten aktiv angepasst werden (McGlashan et al. 2011). Na ja da mag mancher sagen, meine Schildkröten schlüpfen nicht synchron und ich muss ihnen Recht geben, meine auch nicht! Allerdings, und da wird auch dieses kurze Abstract etwas ungenau, meint ja synchroner Schlupf im Nest nicht in jedem Fall den Schlupf aus dem Ei sondern in vielen Fällen das Verlassen des Nests, in dem die Schlüpflinge dann oft in der schon geöffneten Eierschale verharren und auf gute Umweltbedingungen warten, während wir im Inkubator natürlich die Schlüpflinge dann entnehmen, wenn sich das Ei geöffnet hat. Ein schönes Beispiel dafür ist, da ich gerade mal wieder hier im herbstlichen Banya bei der GEA Chelonian Foundation zugast war, dass man mir sagte „heute Nacht hat es zum ersten Mal geregnet, jetzt werden wir Schlüpflinge finden“, wobei damit keine Wasserschildkröten, sondern Testudo h. boettgeri und T. graeca ibera gemeint sind. Denn auch hier scheinen die Landschildkröten zwar schon im offenen Ei, im Nest zu sitzen, aber sie warten dennoch auf den ersten stärkeren Septemberregen, bis sie das Nest eröffnen und zügig verlassen.
Wenn wir mal von diesem eigentlichen Schlupfvorgang etwas abrücken, so scheint mir doch der wesentlichste und bislang etwas vernachlässigte Punkt der zu sein, dass die Autoren bei den von ihnen selbst untersuchten Arten Anhaltspunkte dafür haben, dass es zwischen den Embryonen beziehungsweise angehenden Schlüpflingen eine Kommunikation geben soll die das Schlupfereignis innerhalb eines Nest mit beeinflusst. Über die Art, wie diese Kommunikation aussieht, weiß man nichts genaues, aber wenn wir einmal davon ausgehen, dass es sich dabei vielleicht nicht nur um Schlupfbewegungen (Tastsinn) oder Geräusche (Hörsinn) handelt, wenn die Kleinen schon fertig sind und nur auf das Signal warten, sondern auch um chemische Signale, die über den Geruchssinn wahrgenommen werden, müsste man über deren Bedeutung auch während einer künstlichen Inkubation nachdenken. Sie fragen sich, wie das gehen soll? Nun wir wissen heute, dass selbst reifendes Obst miteinander kommuniziert, was man sich zu nutze macht, wenn man in kommerziellen Großanlagen Früchte noch unreif einlagert und sie dann auf den Punkt genau mittels einer Ethenbegasung zur Vermarktungsreife bringt. Ja, selbst nahe stehende Pflanzen einer Art kommunizieren in den Trockensavannen über solche Signalgase und schützen sich so vor Überweidung (Baldwin & Schultz 1983). Aus eigener, langjähriger Erfahrung habe ich auch gelernt, dass bei fast fertig entwickelten Landschildkröteneiern ein vorzeitiger Schlupf durch ein faules, etwas stinkendes Ei induziert werden kann, was dann oft zu vielen Schlüpfligen mit noch großem Dottersack führen kann. Insofern halte ich eine olfaktorische Kommunikation für die wohl wahrscheinlichste. Wenn dem so ist, kann man davon ausgehen, dass gerade Arten mit extremer Umweltanpassung solche Mechanismen nutzen, um umweltgerecht zur richtigen Zeit zu schlüpfen. Solche angepassten, synchronen Schlupfereignisse bedingen dann aber auch eine mehr oder weniger synchrone Entwicklungsinduktion und Entwicklungsgeschwindigkeit, die aber, wie oben beschrieben, eben nur innerhalb eines individuellen Geleges oder Nests gilt. Was passiert aber, wenn wir bei der künstlichen Inkubation nun Eier aus mehreren Nestern (Gelegen) gemeinsam inkubieren, die zu unterschiedlichen Zeiten abgelegt wurden? Bei den Gelegen der Europäischen Landschildkröten nicht sehr viel, zumindest nicht so viel, als dass nichts mehr schlüpfen würde. Aber was ist mit Arten, die eine Diapause haben, wie z.B. Arten aus der Gattung
Pyxis oder Astrochelys etc.? Könnte es sein, dass man bei diesen Arten einen besseren Schlupferfolg erzielen könnte, wenn man jedes Gelege einzeln inkubieren würde oder so, dass man zumindest größere Abstände zwischen den Eiern unterschiedlicher Gelege hätte, die größer wären, als die Eiabstände innerhalb eines individuellen Nests? Sollte es eine solche Kommunikation geben, dann wäre es vielleicht nicht gerade ratsam, ein Ei das gerade und direkt nach der Eiablage gar nicht oder für Diapause signalisiert, neben eines mit gerade beginnender Entwicklung zu legen oder umgekehrt. Zumal wir bislang nichts darüber wissen, wie und wann solche Signale wirken und ob sie sich nicht dahingehend stören können, dass im ungünstigsten Fall die Entwicklung erst gar nicht oder für sehr lange Zeit nicht einsetzt. So etwas würde dann auch erklären, was ein Umweltfaktor wie Abkühlung macht (siehe Heinle & Bidmon 2002, 2011, Zovickian 2011). Er synchronisiert die Eier für eine gemeinsame Entwicklung, da selbst Eier unterschiedlicher Gelege von dem Zeitpunkt des Wiedererwärmens sich bei gleichgeschaltetem Temperaturregime und synchroner Kommunikation entwickeln. Das ist sicherlich ein wesentlicher Punkt, den man neben anderen bei zukünftigen Untersuchungen testen sollte, denn es ist sicher kein natürlicher Vorgang 50 A. radiata Eier von vielleicht 10 unterschiedlichen Gelegen dicht nebeneinander im gleichen Inkubator zu haben, zumal wir nicht wissen, über welche Distanzen solche Kommunikationssignale wirken. Zumindest sollte man dies bei zukünftigen Forschungsansätzen einmal genauer analysieren.

Literatur

Baldwin I.T. & J. C. Schultz (1983) Rapid changes in tree leaf chemistry induced by damage: evidence for communication between plants. – Science 221(4607): 277-279.

Davis K.M. & G.M. Burghardt (2011): Turtles (Pseudemys nelsoni) learn about visual cues indicating food from experienced turtles. – Journal of Comparative Psychology 125(4): 404-410 oder Abstract-Archiv.

Heinle, N. & H.-J. Bidmon (2002): Auf- und Nachzucht der Strahlenschildkröte Geochelone radiata (Shaw, 1802): Haltung und erfolgreiche Vermehrung über mehrere Jahre nach Anpassen der Inkubationstemperaturen der Eier an die klimatischen Gegebenheiten im Ursprungsgebiet der Tiere. – Emys 9(2): 4-28.

Heinle, N. & H.-J. Bidmon (2011): Langjährige Haltung und Reproduktion der Spinnenschildkröte, Pyxis arachnoides arachnoides, bei kombinierter Freiland- und Innenhaltung mit Ästivationsphase. – Schildkröten im Fokus 8(4): 3-22 ➚.

McGlashan, J. K., R-J. Spencer & J.M. Old (2012): Embryonic communication in the nest: metabolic responses of reptilian embryos to developmental rates of siblings – Proceedings of The Royal Society B – Biological Sciences 279(1734): 1709-1715 oder Abstract-Archiv.

Zovickian W. H. (2011): Inkubationsstrategien für Pyxis-Eier. – Schildkröten im Fokus 8(3): 19-22 ➚.