Nanglu, K., D. de Carle, T. M. Cullen, E. B. Anderson, S. Arif, R. A. Castaneda, L. M. Chang, R. E. Iwama, E. Fellin, R. C. Manglicmot, M. D. Massey & V. Astudillo-Clavijo (2023): The nature of science: The fundamental role of natural history in ecology, evolution, conservation, and education. – Ecology and Evolution 13(10): e10621.
Die Natur der Wissenschaft: Die fundamentale Rolle die die historische, natürliche Entwicklung für die Ökologie, Evolution, Erhaltung und Ausbildung spielt.
DOI: 10.1002/ece3.10621 ➚
Es gibt derzeit in vielen großen Forschungseinrichtungen einen Trend, die Wichtigkeit von naturhistorischer Bildung herunterzuspielen und mehr theoretische Untersuchungen, Laborausbildung sowie simulationsbasierte Untersuchungsprogramme in den Vordergrund zu stellen. Dies geht zunehmend in die Richtung, freilandbasierte Biodiversitätsuntersuchungen und Freilandkurse (Exkursionen) aus dem Curriculum zu streichen und den Eindruck zu vermitteln, dass naturhistorische Untersuchungen einen untergeordneten Zweig der Wissenschaft darstellen. Dazu kommen dann noch massive Kürzungen bei den Finanzmitteln für naturhistorische Museen und zur Aufrechterhaltung von deren Kollektionen, dem Stellenabbau bei Taxonomen für die verschiedensten Disziplinen und eine deutliche Geringschätzung der Rolle die naturgeschichtlichen Daten (und anderen Formen von Beobachtungsdaten, einschließlich des Wissens der indigenen Bevölkerungsgruppen) bei wissenschaftlichen Evaluationen zukommt. In dieser Arbeit zeigen wir, dass naturhistorisches Wissen ein integraler Bestandteil jedes kompetitiven Wissenschaftsprogramms sein muss, da erst ein umfassender Review auf welche Weise sie dazu beitragen, die moderne Wissenschaft fortschreitend zu formen und die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft in der Gesellschaft prägt. Wir verdeutlichen dies, indem wir aufzeigen, wie naturhistorische Forschungsarbeit solche Disziplinen wie Ökologie, Evolutionsbiologie und Erhaltungsbiologie prägen und wie essenziell effektive Ausbildungsprogramme für die öffentliche Ordnung sind. Wir untermauern diese Einsichten mit derzeitigen Fallstudien wie zum Beispiel wie wir die Dynamiken der evolutionären Radiation besser verstehen, die ja auf naturhistorischen Daten basieren oder die Entwicklung von Methoden, um neue Erkenntnisse aus Museumsexemplaren zu gewinnen, sowie die Erkenntnisse, die eine über viele Dekaden zurückreichende naturhistorische Untersuchung liefern kann. Letzteres ist ein logisches Unterfangen zum Aufbau einer informierten und wissenschaftsorientierten Gesellschaft. Wir fassen diese Empfehlungen mit dem Ziel zusammen, Studenten, die Fakultäten der Universitäten und die Administratoren davon zu überzeugen, naturhistorische Lehre zu unterstützen und als integralen Bestandteil zu vertreten. Insgesamt sind wir alle an einem fundierten Verständnis der natürlichen Welt interessiert, aber wir verfallen oft in Gewohnheiten, unsere wissenschaftlichen Forschungen vom natürlichen Kontext und seiner Komplexität zu abstrahieren. Indem wir dies tun, verlieren wir oft die Komplexität von Fragestellungen aus den Augen und favorisieren und überbewerten auf Simulationen beruhende Studien, die auf übermäßig kontrollierten experimentellen Ansätzen basieren.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Nun man könnte fast meinen, dass es in jeder Dekade wiederholtermaßen eine solche Publikation gibt (siehe dazu auch Boero, 2010 und den dortigen Kommentar). Allerdings muss man sagen, dass eine naturhistorische Ausbildung durchaus essenziell ist für die Beurteilung komplexer natürlicher Phänomene, seien es die grundlegenden Studien zur Entstehung des Lebens ebenso wie für Studien über Verhalten, die biologische Alterung und Krankheitsentstehung. Wir alle sind aus den Evolutionsgeschichtlichen Abläufen auf diesem Planeten oder gar des Alls hervorgegangen und stehen damit unabdingbar in Verbindung. Selbstverständlich sollte es auch so sein, dass wir uns wirklich auf exakte Freilanddaten oder je nach Disziplin echte Laboruntersuchungsdaten stützen, denn wir sehen ja, dass Simulationen nur so gut sein können wie die realen Daten auf denen sie basieren. Insofern ersetzen sie auch keine echten biologischen Untersuchungen, denn selbst, wenn sie uns Simulationsdaten liefern müssen wir zwangsläufig davon ausgehen, dass diese fehlerbehaftet sind und der Realität nicht nahe genug kommen, weil ja „Realität“ oder reale Lebensabläufe in Lebewesen ja meist auch auf jenen Vorgängen basieren, die wir noch nicht kennen und für die wir noch keine gesicherten Daten haben. Insofern liefern solche Simulationen häufig nur Anhaltspunkte dafür, dass wir noch so einiges experimentell untersuchen müssten, um bestimmte belebte Systeme zu verstehen (z.B. Scheffer & van Nes, 2018). Was aber diese Studie immer noch wenig adressiert, ist der Fakt, dass wir notgedrungen wegkommen müssen von unserem Schubladendenken und Handeln, dass uns schon so oft fehlgeleitet hat. Lebewesen wie auch Ökosysteme sind komplexe Netzwerke und aus methodischen Gründen pflegen wir sie in Einzelteilen zu untersuchen und zu verstehen (siehe dazu Szabo et al., 2020 und den dortigen Kommentar). Oft, wenn man in der wissenschaftlichen Diskussion diese Komplexität anspricht, wird man sofort argumentativ ausgebremst mit dem Argument man kann nicht alles untersuchen, weil das die wissenschaftsfördernden politischen Autoritäten nicht verstehen und das Risiko zu groß sei, dass dann dabei nichts herauskommt. Allerdings sollte man aber dann dafür sorgen Wissenschaftsstrukturen zu implementieren, die die Wissenschaftler dazu zwingen so zusammenzuarbeiten, dass diese Komplexität auch adressiert werden kann. Wenn man das nicht tut, hat man zwar sehr viele, manchmal auch brauchbare Einzelergebnisse, die vielleicht Symptome abmildern, aber eben zu keinen wirklichen Verbesserungen führen. Wir sehen, dass ja gerade beim Biodiversitätsverlust, wo jährlich, ich möchte fast sagen Tausende von Einzelpublikationen erscheinen, aber keine einzige Einzelstudie bislang ein Konzept lieferte, die einer echten Problemlösung nähergekommen ist. Häufig, wenn dann bei den Studien auch noch industriefinanzierte Forschungsarbeiten durchgeführt werden, die nur einen bestimmten Interessensaspekt in den Vordergrund stellen, wird es noch schlimmer, weil Ergebnisse die den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen widersprechen ausgeklammert werden oder nicht publik gemacht werden. Siehe dazu auch Bidmon (2023) und die dortigen Kommentare.
Literatur
Bidmon, H.-J. (2023): Das Schildkrötenjahr 2023. Abstract-Archiv.
Boero, F. (2010): The Study of Species in the Era of Biodiversity: A Tale of Stupidity. – Diversity 2(1): 115-126 oder Abstract-Archiv.
Navarro, A. & J. V. López-Bao (2024): Agribusiness undermines EU green policy. – Science 384 (6692): 169-1770; DOI: 10.1126/science.ado6250 ➚.
Scheffer, M. & E. H. van Nes (2018): Seeing a global web of connected systems. – Science 362(6421): 1357; DOI: 10.1126/science.aav8478 ➚.
Szabo, B., D. W. A. Noble & M. J. Whiting (2020): Learning in non-avian reptiles 40 years on: advances and promising new directions. – Biological reviews of the Cambridge Philosophical Society 96(2): 331-356 oder Abstract-Archiv.
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Pelodiscus variegatus – Gefleckte Weichschildkröte