Roark, A. M., K. A. Bjorndal & A. B. Bolten (2009): Compensatory responses to food restriction in juvenile green turtles (Chelonia mydas). – Ecology 90(9): 2524-2534.
Kompensatorische Reaktionen auf die Nahrungsrestriktion bei juvenilen Suppenschildkröten (Chelonia mydas).
DOI: 10.1890/08-1835.1 ➚
Das Ziel dieser Studie war es, die kompensatorischen Reaktionen als Anpassung an eine Begrenzung der Nahrung zu untersuchen, sowie die Reaktionen der Schildkröten zu erfassen, die sich nach Aufhebung der Nahrungsrestriktion bei juvenilen Suppenschildkröten (Chelonia mydas) einstellen. Dazu wurden die Schildkröten in drei Gruppen unterteilt, wobei die AL-Gruppe über 12 Wochen Futter ad libitum bekamen (also soviel sie wollten), die zweite R-Gruppe bekam für 12 Wochen eine deutlich reduzierte Futtermenge und die dritte R-AL Gruppe für 5 Wochen die reduzierte Futtermenge und danach für 7 Wochen Nahrung ad libitum. Kovarianzanalysen wurden angewendet, um die Beziehungen 1. zwischen Wachstum und Körpergröße, 2. zwischen Nahrungsaufnahmemenge und Körpergröße und 3. Wachstum plus Nahrungsaufnahmemenge zwischen den drei Gruppen zu analysieren. Ebenso untersuchten wir die Körperzusammensetzung der Schildkröten aus jeder Gruppe zu Beginn nach 5 Wochen und nach 12 Wochen. Nach dem Wechsel zur ad libitum Versorgung zeigten die R-AL Schildkröten eine der AL-Gruppe vergleichbare Nahrungsaufnahmemenge bei einer gesteigerten Zuwachsrate im Vergleich zur AL-Gruppe, wenn die Zuwachsrate in Abhängigkeit zur Ausgangsgröße bestimmt wurde, obwohl sich in der 12. Woche noch kein Größenausgleich eingestellt hatte, aber die Überlappung der Größenbereiche zugenommen hatte. Die R-AL Schildkröten zeigten auch eine höhere Umwandlungsrate von Nahrung in Wachstum, und sie steckten einen höheren Anteil der Nährstoffe in die Proteinsynthese, was ihnen im Vergleich zur AL-Gruppe half, ihre Körperkondition (mit Ausnahme des Mineralgehalts) bis zum Untersuchungsende zu regenerieren. Somit zeigten sie ein Ausgangsgrößen abhängiges beschleunigtes Wachstum, das nicht mit einer Hyperphagie einherging, und sie konnten dabei auch noch ihre Körperkondition regenerieren, aber nicht den anfänglich erlittenen Größenverlust ganz ausgleichen. Diese Ergebnisse belegen, dass zum Ersten bei juvenilen Suppenschildkröten die Nahrungsaufnahme immer maximal ist, so lange genug Futter vorhanden ist, und diese Nahrungsaufnahmemenge können sie auch nicht steigern, um damit eine vorherige Hungerphase auszugleichen; zum Zweiten sind die Wachstumsraten der ad libitum gefütterten Schildkröten nur minimal veränderbar (anpassbar) bezogen auf die vorhergegangene Ernährungssituation, und zum Dritten scheint es bei den Tieren eine Priorität dahingehend zu geben, die Nahrung zuerst für eine verbesserte Körperkondition zu nutzen, bevor sie zum Erreichen einer optimalen Größe eingesetzt wird. Ernährungsbedingte Restriktionen, denen sie während der ersten gefährdeten Zeit nach dem Schlupf ausgesetzt sind, können also lang anhaltende Konsequenzen für wild lebende Schildkröten haben, da sie einem erhöhten Risiko einer größenspezifischen Mortalität unterliegen. Dieses Risiko können sie möglicherweise dadurch etwas verringern, dass sie ihre Körperkondition verbessern, indem sie mehr Reserven anlegen.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Hierbei handelt es sich wirklich um eine sehr gute Untersuchung zur Ernährung herbivorer Meeresschildkröten, und es ist eigentlich bedauerlich, dass es bisher nichts Vergleichbares für Landschildkröten gibt. Das macht auch deutlich, dass jenes, was heute von etlichen Tierärzten empfohlen oder behauptet wird, genau wie vieles andere auf sehr wackeligen Beinen steht. Um nun nicht zu theoretisch zu bleiben, schauen wir doch einmal auf die hier vorgestellten Befunde, von denen die Arbeit weit mehr enthält, als ins Abstract passten. Hier zeigen die Autoren klar, dass Schlüpflinge ein sehr schnelles Wachstum anstreben, und dass sie das dazu notwendige Futterangebot von Anfang an maximal nutzen, wobei sie auch sehr schnell an Größe zulegen. Hier fütterten die Autoren die Schlüpflinge für eine Woche optimal und anschließend reduzierten sie einer Gruppe das Futter um die Hälfte, so dass sie gerade noch in der Lage waren, etwas Zuwachs zu realisieren. Die dritte Gruppe, die auch „hungerte“ bekam nach 5 Wochen wieder optimale Fütterung. Es zeigte sich auch klar, dass die hungernden Schildkröten deutlich langsamer wuchsen und an Körperkondition einbüßten. Die Tiere, die nach der Hungerphase wieder genug Futter bekamen, waren nicht mehr in der Lage, den Verlust an Wachstum, den sie während der 5 Hungerwochen erlitten hatten, bis zum Versuchsende einzuholen, obwohl sie ein sehr schnelles Wachstum zeigten, wobei sie nicht mehr Futter pro Zeiteinheit aufnahmen als die Kontrollgruppe. Da sie wahrscheinlich über das Wachstumshormon gesteuert nicht noch schneller pro Zeiteinheit wachsen konnten, steckten sie den Energiegewinn aus der gesteigerten Futterverwertung in das Anlegen von Reserven und mehr Protein, was ihrer Körperkondition zugute kam, wie die Autoren berichten. (Erinnert Sie dies an etwas, das man auch vom Menschen kennt? Viele, die eine Diät hinter sich haben und deren Stoffwechsel dadurch auf maximale Nutzung der verminderten Nahrungszufuhr eingestellt ist, klagen darüber, dass sie nach der Diät noch leichter zur Gewichtszunahme neigen). Was aus der Arbeit noch hervorgeht ist ein interessanter Befund zur Mineralaufnahme, die bei den optimal versorgten Tieren bei 4,7 % lag, aber bei den Hungertieren auf 5,5 % angestiegen war, während die Tiere, die nach der Hungerphase den schnellsten Zuwachs zeigten, nur 4,6 % Mineralien aufnahmen. (Damit könnten sich fast alle bestätigt fühlen, die behaupten, dass groß gehungerte Tiere langsamer wachsen und besser mineralisiert sein sollen). Allerdings haben die Autoren in dieser Studie, obwohl sie dazu einige Tiere töten mussten, deren Gewebe untersucht, und hier zeigte sich deutlich, dass die Hungertiere eine signifikant schlechtere Körperkondition hatten, einen deutlichen Proteinverlust zeigten und in die Gewebe signifikant mehr Wasser einlagerten, was sogar das weiche Organ Leber betraf (20 % mehr Wasser als in der Kontrollgruppe), deren Bedarf an Strukturproteinen sicher geringer ist, als zum Beispiel beim Bindegewebe. Zudem weisen die Autoren für die Hungertiere eine signifikante Verkleinerung von Leber und Darm nach (d .h. die Leber ist ohnehin schon kleiner und enthält trotzdem mehr Wasser). In der Summe überwiegt bei diesen Tieren ganz klar ein Mangel [obwohl auch diese Tiere noch minimales Wachstum zeigen, also nicht so wenig Futter hatten, dass gar nichts mehr ging (Wachstumshormonzwang)], und insofern reagieren diese Schildkröten eigentlich wie etliche andere Wirbeltiere auch, und sie können es auch, da sie als Wasserlebewesen natürlich genug Wasser um sich haben, um den Versuch zu realisieren, den Mangel an Protein durch Wassereinlagerung auszugleichen. Auch die Mineralaufnahme lässt sich eigentlich aus Seewasser immer etwas leichter gewährleisten, als im Süßwasser oder an Land.
Nun noch einmal die Frage, was würde bei einer Landschildkröte unter gleichen Voraussetzungen und Proteinmangel passieren? Nach allen Beobachtungen etwas sehr Ähnliches (auch wenn es tatsächlich quantitative Messungen für Landschildkröten noch nicht gibt, die zu den hier dargestellten Daten vergleichbar wären). Nur was passiert, wenn den Landschildkröten auch noch Wasser fehlt, weil sie bei zu wenig Nahrung (Protein) auch noch zu trocken gehalten werden? (siehe: Diskussion im Testudo-Forum, zudem geben auch Loehr et al. 2007 und Hazard et al. 2009 darauf eine indirekte Antwort: Die Schildkröten schrumpfen! Beantworten Sie sich selbst die Frage: Was Schrumpfen mit Faltenschlagen, Einfaltung, Einsenkungen etc. zu tun haben könnte? Oder führen gar Hunger und Trockenheit schneller zu Pyramiden als optimale Versorgung?). Zudem sollte man sich fragen, was macht ein so kleiner auf schnelles Wachstum programmierter Schlüpfling bei „Hunger“ Proteinmangel und einer dazukommenden Infektion, die es erforderlich machen würde, neue zusätzliche Abwehrzellen und neue Antikörper zu bilden? Beide Abwehrmechanismen kommen bei Schildkröten vor und beide sind abhängig von einer intakten Proteinbiosynthese. (siehe Freedberg et al. 2008, Hunter et al. 2008). Ich denke, jedem bei dem etwas aus dem Biologie- und Chemieunterricht hängen geblieben ist, wird spätestens jetzt einleuchten, dass diese Rechnung nicht zugunsten der infizierten unterversorgten Schildkröte aufgehen kann. Siehe auch Kommentare zu Russell & Balazs (2009), Ritz et al. (2009), Lee et al. 2007, Spencer et al. (2006), Freedberg et al. (2008), Hunter et al. (2008) und Zhou et al. (2009).
Zum Schluss möchte ich noch darauf verweisen, dass die Autoren in der gesamten Diskussion ihrer Arbeit nie davon reden, dass die ad libitum mit Futter versorgten Schlüpflinge ein unnatürlich schnelles Wachstum zeigen würden. Nein, die Argumentation geht genau in die andere Richtung und das, obwohl es sich zumindest bei Frau Karen Bjorndal um eine langjährig tätige sehr erfahrene Tierphysiologin handelt, die fast ihr ganzes Berufsleben mit den unterschiedlichsten Schildkrötenspezies arbeitete. Trotzdem gibt es in der gesamten Diskussion der Daten nicht ein Argument gegen schnelles Schlüpflingswachstum und maximale Nutzung der Ressourcen durch Schlüpflinge. Wenn das von so vielen Biologen mit Freilanderfahrung für natürlich angesehen wird, frage ich mich ehrlich, ob sich, wenn schon nicht die Laien, dann doch die Veterinäre fragen sollten, ob es für die Krankheiten, die sie so häufig einem schnellen Wachstum zuschreiben, nicht auch andere Ursachen geben könnte? Ich betone hier ausdrücklich, dass wir hier über Schlüpflingswachstum reden und nicht darüber, wie man etwa 4-10 jährige subadulte Schildkröten zu ernähren hätte. Dass es diesbezüglich durchaus Unterschiede geben kann, auf die heute kaum jemand im Detail eingeht, weil man diesbezüglich noch alles „über einen Kamm zu scheren“ pflegt, habe ich schon 2006 diskutiert, siehe Bidmon (2006).
Literatur
Bidmon, H.-J. (2006): Die Aufzucht und Ernährung europäischer Landschildkröten – Grundlagen und Rezepte, Futtermittel und Zusatzstoffe. – S. 117-136 in Daubner, M. & T. Vinke (Hrsg.): Testudo – Häufig gehaltene Arten. – Schildkröten im Fokus Sonderband . – Bergheim (dauvi-Verlag).
Freedberg, S., T.-J. Greives, M. A. Ewert, G. E. Demas, N. Beecher & C. E. Nelson (2008): Incubation environment affects immune system development in a turtle with environmental sex determination. – Journal of Herpetology 42(3): 536-541 oder Abstract-Archiv.
Hazard, L. C., D. R. Shemanski & K. A. Nagy (2009): Nutritional Quality of Natural Foods of juvenile Desert Tortoises (Gopherus agassizii): Energy, Nitrogen, and Fiber Digestibility. – Journal of Herpetology 43(1): 38-48 oder Abstract-Archiv.
Hunter, K. W. Jr., S. A. Dupré, T. Sharp, F. C. Sandmeier & C. R. Tracy (2008): Western blot can distinguish natural and acquired antibodies to Mycoplasma agassizii in the desert tortoise (Gopherus agassizii). – Journal of Microbiological Methods 75(3): 464-471 oder Abstract-Archiv.
Lee, T. N., M. V. Plummer & N. E. Mills (2007): Use of post hatching yolk and external forage to maximize early growth in Apalone mutica hatchlings. – Journal of Herpetology 41(3): 492-500 oder Abstract-Archiv.
Loehr, V. J., M. D. Hofmeyr & B. T. Henen (2007): Growing and shrinking in the smallest tortoise, Homopus signatus signatus: the importance of rain. – Oecologia 153(2): 479-488 oder Abstract-Archiv.
Ritz, J., C. Hammer & M. Clauss (2009): Body size development of captive and free-ranging leopard tortoises (Geochelone pardalis). – Zoo Biology 29(4): 517-525 oder Abstract-Archiv.
Russell, D. F. & G. H. Balazs (2009): Dietary Shifts by Green Turtles (Chelonia mydas) in the Kane'ohe Bay Region of the Hawaiian Islands: A 28-Year Study. – Pacific Science 63(2): 181-192 oder Abstract-Archiv.
Spencer, R. J., F. J. Janzen & M. B. Thompson (2006): Counterintuitive density-dependent growth in a long-lived vertebrate after removal of nest predators. – Ecology 87(12): 3109-3118 oder Abstract-Archiv.
Zhou, X,. Q. Guo & H. Dai (2009): Molecular characterization and expression profiles in response to bacterial infection of Chinese soft-shelled turtle interleukin-8 (IL-8), the first reptilian chemokine gene. – Developmental & Comparative Immunology 33(7): 838-847 oder Abstract-Archiv.
Galerien
Chelonia mydas – Grüne Meeresschildkröte