Doody, J. S., G. M. Burghardt & V. Dinets (2013): Breaking the Social-Non-social Dichotomy: A Role for Reptiles in Vertebrate Social Behavior Research? – Ethology 119(2): 95-103.
Ein Bruch mit der Sozial-Unsozial-Dichotomie: Die Rolle der Reptilien für die Erforschung des Sozialverhaltens bei Wirbeltieren.
DOI: 10.1111/eth.12047 ➚
Obwohl das Sozialverhalten bei Wirbeltieren ein weit reichendes Kontinuum von der solitären bis zu einer hochgradig sozialen Lebensweise umfasst, werden die einzelnen Wirbeltiertaxa stark vereinfacht dichotom (in zwei Linien) in entweder sozial oder unsozial eingeteilt. Wir argumentieren hier dafür, dass diese Dichotomie zu stark vereinfacht und die Bandbreite der sozialen Systeme innerhalb der Wirbeltiere vernachlässigt und dadurch unser Verständnis für die Evolution von Sozialverhalten eher behindert. Das hat irreführender Weise auch dazu geführt, die Gruppe der Reptilien als primär unsozial zu bezeichnen. Dieser perspektivische Essay verweist insbesondere auf die hochgradige Diversität und die Komplexität der Sozialsysteme bei Reptilien und liefert auch einen kurzen Abschnitt, wie es in der Vergangenheit dazu kam, dass die Erforschung des Sozialverhaltens bei Reptilien weitgehend unterlassen wurde. Ebenso zeigen wir auf, wie gerade Reptilien zum Verständnis der Evolution des Sozialverhaltens innerhalb der Wirbeltiere beitragen können. Obwohl derzeit noch ein umfassender Review (Überblick) über das Sozialverhalten aller Wirbeltiere fehlt, zeigt die sich in mehreren unabhängigen Linien wiederholende Evolution sozialer Systeme, was man tun könnte, um die Faktoren zu untersuchen, die zu Veränderungen im Sozialverhalten von Wirbeltieren führen, wobei insbesondere die Paraphylie der Reptilien dafür spricht, wie notwendig es ist, das Sozialverhalten der Reptilien zu verstehen und in die evolutive Betrachtung zu integrieren.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Eine sehr umfassende Übersicht über das bislang bekannt gewordene Sozialverhalten bei Reptilien mit ca. 98 Referenzen. Hier wird eigentlich klar, dass Reptilien einschließlich der Schildkröten wie die anderen Wirbeltierklassen auch, soziale Lebensweisen entwickelt haben (siehe auch Kommentar zu Crews et al. 2006). Letzteres wurde auch gerade in jüngster Zeit für die diversesten Schildkrötenarten gezeigt, wobei auch einige der Kommunikationssysteme zur sozialen Interaktion entdeckt wurden (z.B. Ferrara et al. 2013). Im Grunde genommen etwas, das man auch ohne spezielle Forschung an Reptilien hätte einsehen können. Denn es gibt sogar Sozialverhalten bei Wirbellosen, und jeder Aquarianer kann Sozialverhalten bei Wirbeltieren beobachten, wie besonders im Fall der Schwarmfische oder gar der Maulbrüter, um nur einige Beispiele zu nennen, ja es sind selbst brutpflegende Amphibien bekannt, warum sollten dann gerade die Reptilien als Zwischengruppe zu den Vögeln kein soziales Repertoire an Verhaltensweisen zeigen? Aber wie bei vielem im Leben ist die wertfreie, unabhängige, eigenständige Betrachtung unserer Umwelt nicht gerade unsere Stärke. Denn wir als Menschen sind ganz zweifelsohne sehr soziale Wesen, bei denen es nur allzu oft fast schon zum guten Ton gehört, in „hyper“-sozialer Manier vieles einfach nachzuplappern (was wir schon seit Kleinkindertagen indoktriniert haben), und diesbezüglich hatten eben die Reptilien das Pech, dass sie jemand irgendwann in der Vergangenheit als unsozial bezeichnet hatte, und alle, die danach kamen es einfach so übernommen haben, ohne selbst zu beobachten und nachzudenken. Natürlich lag das auch daran, dass wir in früherer Zeit Sozialverhalten nach unseren menschlichem Muster und weniger als Umweltanpassung interpretierten, und insofern ist diese in diesem Essay vermittelte Erkenntnis eigentlich ein schönes Beispiel dafür, wie „hyper“-soziale Manier und egozentrische Betrachtung der Umwelt zu Voreingenommenheit und ziemlichen Fehlschlüssen führen können. Siehe auch Mueller-Paul et al. (2012), Wilkinson et al. (2007, 2010).
Literatur
Crews, D., W. Lou, A. Fleming & S. Ogawa (2006): From gene networks underlying sex determination and gonadal differentiation to the development of neural networks regulating sociosexual behavior. – Brain Research 1126(1): 109-121 oder Abstract-Archiv.
Davis, K.M. & G.M. Burghardt (2011): Turtles (Pseudemys nelsoni) learn about visual cues indicating food from experienced turtles. – Journal of Comparative Psychology 125(4): 404-410 oder Abstract-Archiv.
Davis, K. M. & G. M. Burghardt (2012): Long-term retention of visual tasks by two species of emydid turtles, Pseudemys nelsoni and Trachemys scripta. – Journal of Comparative Psychology 126(3): 213-223 oder Abstract-Archiv.
Ferrara, C. R., R. C. Vogt & R. S. Sousa-Lima (2013): Turtle Vocalizations as the First Evidence of Posthatching Parental Care in Chelonians. – Journal of Comparative Psychology 127(1): 24-32 oder Abstract-Archiv.
Mueller-Paul, J., A. Wilkinson, G. Hall & L. Huber (2012): Radial-Arm-Maze Behavior of the Red-Footed Tortoise (Geochelone carbonaria). – Journal of Comparative Psychology 126(3): 305-317 oder Abstract-Archiv.
Wilkinson, A., H. M. Chan & G. Hall (2007): Spatial learning and memory in the tortoise (Geochelone carbonaria). – Journal of Comparative Psychology 121(4): 412-418 oder Abstract-Archiv.
Wilkinson, A., K. Kuenstner, J. Mueller & L. Huber (2010): Social learning in a non-social reptile (Geochelone carbonaria). – Biology Letters 6(5): 614-616 oder Abstract-Archiv.