Claude, J., P. C. H. Pritchard, H. Y. Tong, E. Paradis & J. C. Auffray (2004): Ecological correlates and evolutionary divergence in the skull of turtles: A geometric morphometric assessment. – Systematic Biology 53(6): 933-948.
Ökologische Korrelate und evolutive Divergenz am Schädel von Schildkröten: Eine geometrisch morphometrische Auswertung
DOI: 10.1080/10635150490889498 ➚
Umweltnutzung und phylogenetische Abstammung sind häufig korreliert mit morphologischen Veränderungen. Zudem sind biologische Formen oft sehr komplex und entwickeln sich in Abhängigkeit von verschiedenen internen Vorgaben, so dass sie nur mittels integrativer Methoden zu bewerten sind. (Einfügung H.-J. Bidmon: Gemeint ist, dass gleiche ökologische Bedingungen zu einem ähnlichen Bauplan bei verschiedenen Arten führen. Als Extrembeispiel sei hier genannt, dass die äußere Form einer Maulwurfsgrille [Insekt] der eines Maulwurfs [Säugertier] sehr ähnelt, weil beide eine sehr ähnliche ökologische Nische bewohnen). Wir analysierten die morphologische Variation bei Schildkrötenschädeln vor dem Hintergrund einer adaptiven Verbreitung. Wir konzentrierten uns auf Schildkröten aus der Über(Super)familie Testudinoidea, die eine bemerkenswerte Variabilität entwickelt hat zum Einen in der Anzahl der verschiedenen Arten und zum Anderen bei der ökologischen Einnischung. In dieser Studie betrachteten wir die morphologischen Variationen am Schildkrötenschädel dreidimensional unter Anwendung moderner geometrischer, morphometrischer Verfahren und unter Berücksichtigung ihrer Nahrung, ihrer phylogenetischen Abstammung und dem bewohnten Habitat. Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die morphologischen Spezialisierungen in Abhängigkeit von der Nahrung und dem Habitat entwickelten. Morphologische Variation setzt sich also zusammen aus den zwei Parametern: 1. den verfügbaren Ressourcen (Habitat und Nahrung) und 2. Phylogenie (Abstammung). Insbesondere der Modus der Nahrungsaufnahme in einer bestimmten Umwelt stellte sich als Schlüsselfaktor für die Richtung der morphologischen Evolution und Diversifikation am Schildkrötenschädel heraus. Insbesondere die Durophagie (Fressen von harter Nahrung z. B. Heu oder Muscheln und Schnecken) führt zu einer parallelen morphologischen Schädelausgestaltung in verschieden Kladen (bei nicht direkt verwandten Arten). Die Phylogenie selbst scheint nur einige grundlegende, lokalisierte Struktureigenschaften am Schädel zu bestimmen und hat ansonsten nur einen untergeordneten, minimalen Einfluss auf die Schädelausgestaltung, denn die einzelnen Morphotypen entwickeln sich in strenger Korrelation (Abhängigkeit) von den ökologischen Faktoren in beiden Kladen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die adaptive Radiation (Ausbreitung) der Testudinoidea sehr deutlich demonstriert, welche Beziehung zwischen Schädelform und Lebenstil besteht.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Eine hilfreiche Studie, nicht weil man das, was sie an Ergebnissen erbracht hat, nicht schon hätte vorher wissen können, sondern weil sie den Systematikern einmal wieder klar vor Augen hält, was wirklich zählt und was wirklich die Evolution und Formgebung in der Vergangenheit wie auch heute vorantreibt. Es sind die sich verändernden Lebensbedingungen, an die sich Arten, die Überlebenspotential haben, anpassen können müssen, denn ansonsten sterben sie aus. Wenn wir also der Meinung sind, unsere Artenvielfalt aufrecht erhalten zu wollen, dann sollten wir Prioritäten setzten, weniger Mittel für die Archivierung längst vergangener Formen und die Entschlüsselung von Verwandtschaftsbeziehungen zu irgendwelchen Urahnen und mehr Mittel und Initiative beim aktuellen Biotop und Umweltschutz, denn das was weg ist, lässt sich nicht mehr zurückholen, wohl auch nicht durch noch so gutes „Genetic Ingeneering“.