Renner, S. S. (2016): A Return to Linnaeus's Focus on Diagnosis, Not Description: The Use of DNA Characters in the Formal Naming of Species. – Systematic Biology 65(6): 1085-1095.
Die Rückbesinnung auf Linné’s Fokus auf die Diagnose und nicht auf die Beschreibung: Der Gebrauch von DNS-Charakteren bei der formalen Namensgebung für Spezies.
Beschreibungen und Diagnosen sind alternative Auswahlmöglichkeiten bei allen Codes zur Nomenklatur, denn Linné selbst bezog sich auf Diagnosen und nicht auf Beschreibungen um ca. 13.400 Tiere, Pflanzen und Pilze zu benennen. Eine Diagnose benennt Charaktere anhand derer sich ein neues Taxon am deutlichsten von einem bekannten ähnlich aussehenden Taxon unterscheiden lässt. Eine Beschreibung stellt eine Mischung aus taxonomisch relevanten informativen und irrelevanten weniger informativen Anzeichen dar wobei normalerweise noch nicht mal klar angegeben wird welches Anzeichen zu welcher der zwei möglichen Kategorien zählt. Die ersten formalen Diagnosen für neue Taxa die auch auf DNS-basierende Charaktere einbezogen erschienen 2001 und bis November 2015 wurden mindestens 98 Namen für Spezies aus den Gruppen der Weichtiere, Flechten, Bedecktsamer (Pflanzen), Anneliden, Alveolata (Körperhöhlenausbildende), Spinnen, Tausendfüßler, Schildkröten, Fischen, Schmetterlingen, Schnecken, Nematoden und pathogenen Pilzen publiziert die auf diagnostischen Markern für die mitochondriale-, Plastiden- und nukleären DNS – Substitution, DNS – Veränderungen und seltener aufgrund genetischer Abstände beruhten wobei zusätzliche morphologische Charaktere mit berücksichtigt wurden oder ganz unberücksichtigt blieben. Die verschiedenen Autoren fanden verschiedene Wege die diagnostischen Eigenschaften zu spezifizieren (wobei hier alle publizierten Studien tabellarisch dargestellt sind). Während Beschreibungen versuchen die spezifischen Variationen (Abweichungen) innerhalb einer Spezies abzudecken wird dieses Ziel nur sehr selten erreich, da zum einen die stochastische Natur bezüglich der Exemplarauswahl zufällig und lückenhaft ist (tausende von Arten sind nur durch ein einziges Belegexemplar bekannt) und zum zweiten die durch die subjektive Beschreibung von Spezies eingebrachte subjektive Wertung, wohingegen das Ziel der Diagnose eine schnelle Speziesidentifizierung war und ist. Linné versuchte dies indem er sich auf das Aussehen (Image), die geographische Herkunft und die vorhandene Literatur bezog. Das nun erneute Aufmerksamwerden auf eine klare Diagnose fällt zeitlich zusammen mit den weltweiten Bestrebungen Dinge und Lebewesen anhand von Barcodes zu identifizieren die auch die formale Namensgebung beschleunigen könnten wobei sie sich auf die zunehmende Relevanz der DNS sowohl für die Klassifizierung wie auch für die Identifizierung stützen. Deshalb plädiere ich dafür, dass DNS-basierte Diagnosen für neue Arten eine Voraussetzung für die Aufnahme in alle Codex-Systeme darstellt und nicht nur wie bislang für den Klassifizierungscodex für Bakterien Anwendung findet.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Eine Arbeit die wieder einmal klar den Wert von echten Diagnosen in der Taxonomie hervorhebt und welchen Vorteil sie gegenüber subjektiven Kriterien die zur Beschreibung genutzt werden haben. Dieses Thema wurde schon hier im WiF-online Teil häufiger diskutiert (Siehe Kommentare zu Rieppel & Kearney (2007), Boero 2010). Sicher für viele Leser und Schildkrötenliebhaber mögen diese eher akademischen, die Systematiker interessierenden, Fragestellungen weniger interessant sein. Allerdings sollten wir uns heute wo wir uns doch so sehr gesellschaftlich für den Naturschutz und die Arterhaltung (Biodiveristätserhalt) einsetzen klar machen welchen Stellenwert und welche Bedeutung solche Entscheidungen haben. Jeder wird meist unwiderruflich der Aussage zustimmen: Das wir doch das was wir schützen und erhalten wollen auch kennen müssen! Klar dem steht im Grundsatz auch nichts entgegen, außer, dass das Wunschdenken ist (siehe Kommentar zu Boero 2010). Allerdings sollten wir uns dabei klar machen, dass es sich dabei um ein abstraktes taxonomisches System handelt, welches wir uns ausgedacht haben um die belebte Materie zu ordnen das meist noch immer auf einer sehr statischen Betrachtung der Lebewesen beruht und nur zu oft persönlichen Interessen folgt (siehe auch Kommentar zu Ennen et al., 2016). Daraus ergibt sich auch meist der Streit zwischen verschieden Gruppen. Genetische Diagnosen mögen zwar sehr zuverlässig sein und sich auch viel leichter in einen Barcode übertragen lassen als subjektive Beschreibungen, aber sie können und werden niemals so differenziert sein, dass sie individuelle phänotypische oder gar populationsspezifische Eigenheiten miterfassen und mitberücksichtigen können (Wir wissen heute, dass selbst Schildkrötenindividuen und Populationen lernfähig sind und kontextabhängige Verhaltensanpassungen zeigen (Roth & Krochmal, 2015). Ja und das gilt nicht nur für Schildkröten und Menschen sondern für fast alle Spezies (Blumberg, 2016) und sie betreffen nicht nur das Verhalten sondern auch die Morphologie (z.B. Ennen et al. 2016; Lubcke & Wilson 2007, Snover et al. 2015). Letztere lassen sich nur durch Beschreibungen ausdrücken und erfassen und dass auch oft nur für bestimmte zeitliche Perioden. Warum? Nun, weil sich solche formalen auf dem Niveau der Gene liegenden Diagnosekriterien nie der wahren Dynamik dieser belebten Materie in ihrer jeweiligen aktuellen Umwelt anpassen könnten ohne, dass sie dabei ihre Zuverlässlichkeit verlieren, denn Gene liefern Baupläne die je nach Umwelt im Detail modifizierbar sind. Wir wissen heute das Lebewesen nicht statisch sind, dass sie sich ihrer dynamischen Umwelt anpassen und zwar nicht über lange Zeiträume hinweg sondern oft sehr schnell von Generation zu Generation. Ja es gibt sogar Beispiele wie solche Veränderungen und Anpassungen innerhalb der Lebenszeit einzelner Phänotypen/Genotypen vorkommen können und eines der besten Beispiele dafür sind Heuschreckenschwärme und die damit verbundenen Plagen. Dabei verändern ansonsten solitär unscheinbar kryptisch lebende Individuen nicht nur ihr Verhalten hin zu geselligen Schwarmtieren sondern schon vorher verfärben sie sich und ändern ihr Aussehen nur ausgelöst durch stochastisch auftretende Umweltveränderungen (Lickliter, 2016). Rein genetisch unterscheiden sich diese Tiere nicht und somit würde ihr diagnostisch erstellter Barcode immer der gleiche sein. Es sind eben epigenetische, umweltgesteuerte Faktoren die hier wirken und den Phänotyp ausprägen. Dazu gibt es viele Beispiele und wie ich früher schon mal ansprach betrifft uns das selbst auch, dazu brauchen sie nur in ein altes Fotoalbum ihrer Groß- oder Urgroßmutter anschauen und ihnen werden Unterschiede im Wandel der Zeit und Umwelt bewusst. Umwelteinflüsse und Veränderungen wirken sich auf den Phänotyp aus, ja selbst bei Schildkröten (z.B. Ennen et al. 2016; Lubcke & Wilson 2007, Snover et al. 2015). Ich erinnere nur an die Höckerbildung. Deshalb molekulare Diagnose und ich möchte mal sagen lokaltypische Phänotypbeschreibung ergänzen sich und sind somit die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Deshalb sind auch kleine Populationen mit lokaltypischen Phänotyp durchaus erhaltenswert (siehe Kommentar zu Turkozan et al., 2010, Ennen et al., 2016). Wir brauchen keine Aufsplittung von Arten um damit mehr seltenere als besonders schützens- und erhaltenswert zu propagieren – Wir brauchen ein realistischeres Verständnis dafür wie Evolutionslinien- und DNS-Erhalt in Wirklichkeit ablaufen! Was nun den überlebenssichernden Biodiversitätserhalt angeht sollten wir uns angewöhnen diese Dynamik der Evolutionslinien zu berücksichtigen und auch zu akzeptieren, dass genauso wie die epigenetischen Faktoren eben auch die genetische Diversität und ein hoher Genfluss zur Erhaltung beitragen. Diese dynamische Anpassung an sich rasch verändernde Umwelten kennt nämlich keine abstrakten Grenzen und es wird zunehmend deutlich, dass Hybridisierung und Introgression von genetischem Material einfach dazu gehört um diese Überlebensfähigkeit hoch zuhalten (Bidmon, 2015). Etwas das mir in Bezug auf Schildkröten schon vor mehr als 10 Jahren immer deutlicher klar wurde als ich die durchaus guten Arbeiten von Bowen & Karl (2007) und Spinks & Shaffer (2007) las und kommentierte. Ja und Hamilton & Miller (2015) verweisen klar darauf, dass 92,9 % der Hybridisierungen vorteilhaft verlaufen (Spielen sie Lotto? – Oder auf was würden sie setzen wenn ihnen jemand eine über 90 %ige Langzeitüberlebenschance bieten würde). Letzteres heißt zwar nicht, dass es keine Speziation (Artenbildung) durch Mutation und Selektion mehr gibt (Shapiro et al., 2016) aber ein gesunder Mittelweg der beides berücksichtigt ist wichtig. Es gibt wohl nicht nur einen Stammbaum der Arten sondern es zeichnet sich zunehmend ein Abstammungsnetzwerk ab! Pennisi (2016) geht in ihrer Zusammenfassung zum Thema – SHAKING UP THE TREE OF LIFE – soweit, dass sie auf Evolutionsbiologen verweist die heute schon davon ausgehen, dass die Arten die das Potential zur Hybridisierung und Introgression ganz eingebüßt haben jene sind deren Zeit unwiderruflich abläuft. Wenn ich dabei mal nicht an Schildkröten denke, die es Gott sei Dank noch können, sondern auch an unsere eigene Spezies Homo sapiens, dann kann ich nicht verhehlen etwas Erleichterung darüber zu verspüren, dass 2010 auf dem afrikanischen Kontinent noch ein zweites menschliches Genom identifiziert werden konnte (Schuster et al., 2010). Zu dieser Erkenntnis hatte sogar Erzbischof Tutu als Theologe und Stammesangehöriger der Bhantu beigetragen (Anonymus 2010).
Sie sehen also die Natur als Vorbild für Abgrenzung und Abschottung heranzuziehen ist trügerisch und entspricht eher dem abstrakten Denkschemata mancher Mitbürger als der Realität. Für uns am Leben und an der Biologie Interessierte sollte dabei deutlich werden, dass die neuen biologischen Erkenntnisse zur Artenbildung zeigen, dass eine möglichst hohe „Biodiversity and Humandiversity“ und Integration für die Arterhaltung und Fortexistenz wesentlicher sind als rassistische Abschottung auch dann wenn sie auch mal soziale Probleme mit sich bringen. Es liegt somit auch in der Populationsdynamik und Natur des Homo sapiens in erster Linie Mensch zu sein und nicht darin sich als deutscher, österreichischer oder als anti-europäischer „Nationalapostel“ zu fühlen. In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in ein neues erfolgreiches Jahr. Möge ihnen unser gemeinsames Hobby auch 2017 neue interessante Beobachtungen und Erkenntnisse bringen!
Nachtrag von H.-J. Bidmon
Wie ich von einigen Treffen unter Schildkrötenhaltern/innen weiß sind viele sehr tierlieb und pflegen auch den Umgang mit Hunden. Etliche sorgen sich dabei um Hunde die aus den südeuropäischen Ländern wie Spanien, Griechenland, Rumänien und Bulgarien stammen und dort aus Tierheimen gerettet wurden um ihnen hier ein tiergerechtes Leben zu gewähren. Ja und sie zahlen dafür auch Hundesteuer. Sorgen wir doch dafür, dass diese helfende Gesinnung in unserer christlich-sozialen Gesellschaft nicht nur für Tiere gilt sondern auch Menschen wie Flüchtlingen zu Teil wird. Bemühen wir uns bei den 2017 anstehenden Herausforderungen darum, dass unsere abendländische Menschlichkeit nicht vor die Hunde geht. Es ist schon erstaunlich, dass so viele in unserem Land notleidenden Tieren aus fremden Ländern anscheinend so viel hilfsbreiter gegenüber stehen als geflüchteten, notleidenden Menschen und dass sie dabei sogar auf die Politik Druck ausüben ihnen die Fluchtwege zu versperren? Anders gefragt würden sie es für gut befinden wenn diese Tiertransporte unserer Tierschutzorganisationen von Seiten der Politik unterbunden würden, weil wir angeblich schon zu viele Hunde in Deutschland haben? Ich denke wir sollten die besinnliche Zeit zwischen den Jahren nutzen auch mal darüber ernsthaft nachzudenken.
Literatur
Anonymus (2010): Africa yields two full human genomes. – Nature 463: 857.
Bidmon, H.-J. (2015): Kommentar zu: Hennessy, E. (2015): The Molecular Turn in Conservation: Genetics, Pristine Nature, and the Rediscovery of an Extinct Species of Galapagos Giant Tortoise. – Annals of the Association of American Geographers 105(1): 87-104 oder Abstract-Archiv.
Blumberg, M. S. (2016): Development evolving: the origins and meanings of instinct. – Wiley Interdisciplinary Reviews: Cognitive Science 8(1-2): e1371 oder Abstract-Archiv.
Boero, F. (2010): The Study of Species in the Era of Biodiversity – A Tale of Stupidity. – Diversity 2(1): 115-126 oder Abstract-Archiv.
Bowen, B. W. & S. A. Karl (2007): Population genetics and phylogeography of sea turtles. – Molecular Ecology 16(23): 4886-4907 oder Abstract-Archiv.
Ennen, J. R., J. Godwin, J. E. Lovich, B. R. Kreiser, B. Folt & S. Hazard (2016): Interdrainage morphological and genetic differentiation in the Escambia Map Turtle, Graptemys ernsti. – Herpetological Conservation and Biology 11(1): 122-131 oder Abstract-Archiv.
Hamilton, J. A. & J. M. Miller (2015): Adaptive introgression as a resource for management and genetic conservation in a changing climate. – Conservation Biology 30(1): 33-41 oder Abstract-Archiv.
Lickliter, R. (2016): Developmental evolution. – Wiley Interdisciplinary Reviews: Cognitive Science 2016. doi: 10.1002/wcs.1422
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Schuster, S. C., W. Miller, A. Ratan, L. P. Tomsho, B. Giardine, L. R. Kasson, R. S. Harris, D. C. Petersen, F. Zhao, J. Qi, C. Alkan, J. M. Kidd, Y. Sun, D. I. Drautz, P. Bouffard, D. M. Muzny, J. G. Reid, L. V. Nazareth, Q. Wang, R. Burhans, C. Riemer, N. E. Wittekindt, P. Moorjani, E. A. Tindall, C. G. Danko, W. S. Teo, A. M. Buboltz, Z. Zhang, Q. Ma, A. Oosthuysen, A. W. Steenkamp, H. Oostuisen, P. Venter, J. Gajewski, Y. Zhang, B. F. Pugh, K. D. Makova, A. Nekrutenko, E. R. Mardis, N. Patterson, T. H. Pringle, F. Chiaromonte, J. C. Mullikin, van, E. Eichler, R. C. Hardison, R. A. Gibbs, T. T. Harkins & V. M. Hayes (2010): Complete Khoisan and Bantu genomes from southern Africa. – Nature 463(7283): 943-947; DOI: 10.1038/nature08795 ➚.
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