Lovich, J., J. R. Ennen, M. Agha & J. W. Gibbons (2018): Where Have All the Turtles Gone, and Why Does It Matter? – BioScience 68(10): 771-781.
Wo sind all die Schildkröten hin und warum spielt das eine Rolle?
Von den 356 Schildkrötenarten die es weltweit gibt sind ungefähr 61 % gefährdet oder schon ausgestorben. Unter den Wirbeltiergruppen gehören Schildkröten zu den am meisten bedrohten. Im Allgemeinen sind sie stärker gefährdet als die Vögel, Säugetiere und Fische und sogar wesentlich stärker gefährdet als die gerade so sehr beachteten Amphibien. Gründe für diese weltweit bedrohliche Situation der Schildkröten sind die altbekannten Einflüsse die alle Tiere und Pflanzen bedrohen wie Habitatzerstörung, unverhältnismäßige Übernutzung der Bestände für den Heimtiermarkt und als Nahrungsmittel sowie der Klimawandel (Viele Schildkröten haben eine Umweltabhängige-Geschlechtsausprägung). Zwei charakteristische Eigenschaften der Schildkröten die sie vor dem Anthropozän auszeichneten waren ihre einstmals massiven Populationsgrößen verbunden mit der dazugehörigen gewaltigen Biomasse. Letztere zeigte mit die höchsten bekannten Werte (über 855 kg pro Hektar) die jemals für Tiere errechnet wurden. Als ein Ergebnis dieser hohen zahlenmäßigen Dominanz spielten Schildkröten eine wichtige und signifikante Rolle als Bodenrekultivierer, Weidegänger auf den Meeresböden, Verbreiter von Samen und Nährstoffverbraucher und Umwandler. Der sich auf einer globalen Skala ereignende Kollaps der Schildkrötenpopulationen führt dadurch zu einer weitreichenden Abnahme bei diesen Funktionen und damit auch ihrer Rolle.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Um es gleich vorweg zunehmen halte ich zwar die Frage für berechtigt, aber eine Verbesserung der Situation sehe ich nicht. Viel eher scheint es als würde sich zu Zeiten des Anthropozäns daran nichts ändern. Letzteres wird deutlich, wenn man mal nüchtern zurückblickt und sich klar macht, dass einer der obigen Autoren auch schon im Jahr 2000, also vor fast 19 Jahren, etwas Ähnliches beschrieben hat (Gibbons et al., 2000). Geändert hat sich wenig oder sogar gar nichts und wir diskutieren im Detail immer noch die gleichen Probleme (z. B. Morgan & Chng, 2018).
Diese aktuelle Arbeit geht auf viele Aspekte der Schildkrötenbiologie und ihrer Funktion innerhalb von Ökosystemen ein und liefert deshalb einen sehr guten Überblick. Dabei werden die Funktionen als Nahrungsrecycler (Biomasseumsatz), Samenverbreiter (z. B.: Jerozolinski et al., 2009; Kimmons & Moll, 2010; Blake et al., 2012; Waibel et al.; 2013; John et al., 2016), Ökosystemingenieure (z. B. Gibbs et al., 2010; Pike & Mitchell, 2013) an vielen praktischen Beispielen in den Vordergrund gerückt. Ebenso, wenn auch nicht so ausführlich, wird ihre Bedeutung für die menschliche Evolution meist unter dem Aspekt der Ernährung beleuchtet was ja letztendlich zumindest in Bezug auf die Besiedlung von Inseln einige Arten völlig auslöschte (z. B.: Fordham et al., 2007; Thompson & Henshilwood, 2014; Pantoja-Lima et al., 2014; Hawkins et al., 2016; Kehlmaier et al., 2017). Auch werden hier die Gefährdungen deutlich angesprochen, wobei insbesondere auf die Problematik der Plastikvermüllung eingegangen wird, wobei gerade farbiger Plastikmüll häufig die Spezies beeinträchtigt die als Quallenverzehrer eine auch für uns Menschen (oder Badetouristen) nicht ganz unbedeutende Rolle spielen. Sicher könnte man diese Liste noch verlängern, denn Schildkröten dienen auch als besonders effektive Mineralienspeicher zumindest in Süßwassersytemen. Insbesondere stellen die Autoren die Abundanz und Biomasse in den Vordergrund die hier auch explizit im Vergleich zu anderen Tiergruppen dargestellt sind. Allerdings sollte man hier auch gerechterweise anmerken, dass das lokale Phänomene sind, die sich schwer unter einem globalen Aspekt erörtern lassen, denn gleiches sehen wir auch bei den Gnus in der Serengeti. Auch da sieht man gleich, dass sich dieses Phänomen nicht globalisiert betrachten lässt, sondern eher einen lokalen von den Regenfällen gesteuerten Ökosystemprozess darstellt. Womit die Autoren allerdings Recht haben könnten, ist die globale Bedeutung der Meeresschildkrötenbiomasse (siehe aber auch Türkozan et al., 2008) in den gemäßigten Breiten sowie einiger Landschildkröten die auf Inseln eine dominante Rolle spielen oder spielten (siehe Mauritius, Aldabra-Atoll, Galapagos). Ja und hier hat ja gerade die Dezimierung der Schildkröten neben einigen anderen Arten ziemliche Auswirkungen gehabt die man heute versucht zu restaurieren (Gibbs et al., 2010; Griffiths et al., 2010). Für die Ozeane wird letzteres wohl eher schwierig, denn wenn wir mal auf die historischen Berichte zurückblicken (Saenz-Arroyo et al., 2006; Barnosky et al., 2017), muss man einfach anerkennen, dass wahrscheinlich selbst wir die einstmalige Rolle dieser Tiere unterschätzen und wir müssen auch einfach zur Kenntnis nehmen, dass es hier im Nahrungsfluss und innerhalb der Nahrungsketten zu erheblichen im Zeitalter des Anthropozäns kaum mehr rückgängig zumachenden Veränderungen gekommen ist die sich auch derzeit durch den Klimawandel bedingt verstärkt weiter auswirken dürften. Ja auch für terrestrische Spezies sind vielerorts die Bedingungen solange es uns gibt unumkehrbar (siehe z.B.: Sachs, 2015). Ohne das ich hier die Schutzbemühungen untergraben möchte, müssen wir aber auch sehen, dass es solche Veränderungen auch früher ohne Zutun des Menschen auf diesen Planeten gegeben hat (z.B.: Sommer et al., 2009) und dass das was wir heute als Ökosysteme oder biologische Gleichgewichte ansehen sich schon häufiger auf diesen Planeten während unterschiedlichster Klimaphasen (Warm-, Eiszeiten) verändert, verschoben und neu stabilisiert haben, wobei vielleicht das Aussterben der Dinosaurier für viele das eindrucksvollste Beispiel darstellen dürfte. Insofern würde ich mal davon ausgehen, dass wirkliche Klimaverschiebungen uns selbst weit mehr beeinträchtigen dürften als die dann noch vorhandenen Schildkröten, die solche Szenarien schon häufiger überdauerten als wir, wenn wir mal auf ihren Fossilrekord von 229 Millionenjahren zurückblicken. Dabei dürften ihnen auch so manche Eigenschaften (siehe z.B. Bidmon, 2017 und die dort zitierte Literatur) geholfen haben, die bei uns so nicht mehr oder noch nicht wieder auftreten. Also zusammenfassend eine schöne Arbeit zum Jahreswechsel die uns viele überdenkenswerte Aspekte liefert über die es sich zu philosophieren lohnt. Wobei mich immer wieder überrascht welche Rolle dabei seit Darwin Schildkröten in der biologischen Naturwissenschaft spielten. Sie bringen uns im Gegensatz zu vielen anderen Lebewesen diese Naturphänomene und natürlichen Prozesse immer noch nahe. Vielleicht auch ein morphologisches und Wesenscharakteristikum, das ihre Rolle die sie für uns „moderne“ Menschen noch spielen unterstreicht. In diesem Sinne ihnen liebe Leser/innen eine besinnliche Weihnachtszeit und einen guten Rutsch in ein interessantes und erfolgreiches neues Jahr.
Literatur
Barnosky, A. D., E. A. Hadly, P. Gonzalez, J. Head, P. D. Polly, A. M. Lawing, J. T. Eronen, D. D. Ackerly, K. Alex, E. Biber, J. Blois, J. Brashares, G. Ceballos, E. Davis, G. P. Dietl, R. Dirzo, H. Doremus, M. Fortelius, H. W. Greene, J. Hellmann, T. Hickler, S. T. Jackson, M. Kemp, P. L. Koch, C. Kremen, E. L. Lindsey, C. Looy, C. R. Marshall, C. Mendenhall, A. Mulch, A. M. Mychajliw, C. Nowak, U. Ramakrishnan, J. Schnitzler, K. Das Shrestha, K. Solari, L. Stegner, M. A. Stegner, N. C. Stenseth, M. H. Wake & Z. Zhang (2017): Merging paleobiology with conservation biology to guide the future of terrestrial ecosystems. – Science; 355(6325): DOI: 10.1126/science.aah4787 ➚.
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