Fransenschildkröte, Chelus fimbriatus, – © Hans-Jürgen Bidmon

Lemell - 2010 - 01

Lemell, P., C. J. Beisser, M. Gumpenberger, P. Snelderwaard, R. Gemel & J. Weisgram (2010): The feeding apparatus of Chelus fimbriatus (Pleurodira; Chelidae) – adaptation perfected? – Amphibia-Reptilia 31(1): 97-101.

Der Fressapparat von Chelus fimbriatus (Pleurodira; Chelidae) – eine perfektionierte Anpassung.

DOI: 10.1163/156853810790457803 ➚

Fransenschildkröte, Chelus fimbriatus, – © Hans-Jürgen Bidmon
Fransenschildkröte,
Chelus fimbriatus,
© Hans-Jürgen Bidmon

Es wurde der Aufbau der Mund- und Schlundhöhle bei der Fransenschildkröte Chelus fimbriatus (Schneider, 1783) untersucht, um den Mechanismus der aquatischen Nahrungsaufnahme bei diesem hochspezialisierten Tier besser zu verstehen, denn mit Ausnahme der rein morphologischen Beschreibung gibt es bislang keine Daten. Der Schädel und der Zungenbeinapparat mit seiner assoziierten Muskulatur wurden an Hand der Computertomographie und per Sektion studiert. Die Zunge untersuchten wir mit dem Rasterelektronenmikroskop. Der flache Schädel sowie die enorme Komprimierungsmöglichkeit der Mandibeln, (Unterkiefer), welche eine wangenähnliche Entwicklung zeigen, zusammen mit dem großen verknöcherten Zungenbeinapparat und dem weit dehnbaren Ösophagus (Speiseröhre), erlauben der Schildkröte einen enormen Saugdruck (Unterdruck) zu erzeugen, der dazu führt, dass die Beute „wie mit einem Atemzug inhaliert“ wird. Die Schließmuskeln der Kiefer sind im Vergleich zu anderen Schildkröten nur schwach ausgebildet und sie dienen nur dazu, den Kopf insgesamt flach zu halten. Trotzdem sind sie in der Lage, sich mit hoher Geschwindigkeit zu bewegen, was eine neue bis dato nicht bekannte Eigenschaft dieser Muskeln ist. Die Zungenbeinmuskulatur ist ebenso gut entwickelt wie der knöcherne Zungenbeinapparat und sie unterstützt die schnelle Erzeugung dieses hohen Unterdrucks, der für eine gute Präzision bei dieser Art der Nahrungsaufnahme erforderlich ist. Die Zunge ist fast ganz reduziert und zeigt keine morphologische Differenzierung auf der Oberfläche. Wenn man alle diese morphologischen Erkenntnisse zusammenfasst, erkennt man dass C. fimbriatus eine extrem gut angepasste Schildkröte ist, die diese Spezies sehr interessant für weiterführende Studien macht.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Dies ist eine schöne Arbeit, die für die anatomisch-morphologisch interessierten Zoologen sicher einige Besonderheiten zu bieten hat. Aber was erzählen uns als allgemeiner interessierte Leser diese Befunde? Nun, wie ich meine, machen sie uns deutlich, wie sehr sich Lebewesen in diesem Fall Schildkröten an extreme ökologische Nischen oder an ganz bestimmte trophische (ernährungsbedingte) Nischen anpassen können. Nun jetzt werden manche sagen „na und – das wussten wir auch vorher“. Ja, wenn wir denn alles schon wissen, dann frage ich mich, wie es sein kann, dass wir aus den seltenen fossilen Funden von Schildkröten, die zum einen geographisch auf unterschiedlichen Kontinenten liegen und zwischen deren Existenz zum anderen nach den Altersdatierungen oft mehrere Millionen Jahre liegen, solche Entwicklungsgeschichten kreieren, wie wir das häufig zu lesen bekommen. Und das ist auch ein Punkt, den ich so häufig kritisiere, weil wir eben die ökologische Einnischung dieser ausgestorbenen Spezies nicht kennen und deshalb auch nicht genau beurteilen können, warum gerade bei diesem Fossil das Plastron reduziert ist oder bei jenem der Carapax nur rudimentär vorhanden ist, während andere vielleicht ein gut ausgeprägtes verknöchertes Zungenbein haben und andere so rudimentäre dünne Zungenbeine zeigen, dass man sie bei Fossilfunden nur selten finden würde. Siehe auch Li et al. 2008, Anquentin et al. 2009, Joyce et al. 2009, Sansom et al. 2010. Allgemein ausgedrückt sollten uns solche Studien helfen, dass was uns andere Wissenschaftszweige als sensationelle Funde oder phylogenetische Entwicklungen verkaufen wollen, besser einzuschätzen und zu gewichten, was oftmals sehr hilfreich ist, um sich ein eigenes objektiveres Bild zu verschaffen, als es uns manche Medien weismachen wollen. Siehe auch: Scheyer & Sander (2007).

Literatur

Anquetin, J., P. M Barrett, M. E: Jones, S. Moore-Fay & S. E. Evans (2009): A new stem turtle from the Middle Jurassic of Scotland: new insights into the evolution and palaeoecology of basal turtles. – Proceedings of the Royal Society: Biological Science 2008 276(1656): 879-886 oder Abstract-Archiv.

Joyce, W. G., S. G: Lucas, T. M. Scheyer, A. B. Heckert & A. P. Hunt (2009): A thin-shelled reptile from the Late Triassic of North America and the origin of the turtle shell. – Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 276(1656): 507-513 oder Abstract-Archiv.

Li, C., X. C. Wu, O. Rieppel, L. T. Wang & L. J. Zhao (2008): An ancestral turtle from the Late Triassic of southwestern China. – Nature 456(7221): 497-501 oder Abstract-Archiv.

Sansom, R. S., S. E. Gabbot & M. A. Purnell (2010): Non-random decay of chordate characters causes bias in fossil interpretation. – Nature 463(7282): 797–800; DOI: 10.1038/nature08745 ➚.

Scheyer, T. M. & P. M. Sander (2007): Shell bone histology indicates terrestrial palaeoecology of basal turtles. – Proceedings: Biological Science 274(1620): 1885-1893 oder Abstract-Archiv.

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