Santacà, M., M. E. M. Petrazzini, A. Wilkinson & C. Agrillo (2020): Anisotropy of perceived space in non-primates? The horizontal-vertical illusion in bearded dragons (Pogona vitticeps) and red-footed tortoises (Chelonoidis carbonaria). – Behavioural Processes 176: 104117.
Die Anisotropie für wahrgenommene räumliche Dimensionen bei Nicht-Primaten? Die Horizontal-Vertikal-Illusion bei Bartagamen (Pogona vitticeps) und Köhlerschildkröten (Chelonoidis carbonaria).
DOI: 10.1016/j.beproc.2020.104117 ➚
Die Horizontal-Vertikal-Illusion ist eine auf die Objektgröße bezogene Illusion, bei der zwei gleichgroße Objekte, die entweder auf einer horizontalen oder vertikalen Fläche präsentiert werden unterschiedlich groß erscheinen, nämlich bei vertikaler Präsentation länger. Diese Illusion ist einer der Hauptbeweise für das Auftreten einer Anisotropie bei der räumlichen Wahrnehmung beim Menschen also einer asymmetrischen Wahrnehmung der Objektgröße, wenn das Objekt entweder in der horizontalen oder vertikalen Ebene präsentiert wird. Obwohl diese Illusion beim Menschen sehr ausführlich untersucht wurde gibt es kaum Studien für andere Arten. Hier untersuchten wir ob Reptilien die Horizontal-Vertikal-Illusion wahrnehmen. Wir testeten dazu zwei Arten: Bartagamen (Pogona vitticeps) und Köhlerschildkröten (Chelonoidis carbonaria). Bei Kontrollexperimenten wurden zwei unterschiedlich große Futterstreifen präsentiert und es wurde erwartet, dass die Tiere den längeren auswählen. Bei den Testversuchen wurden den Tieren zwei gleichgroße Futterstreifen angeboten, aber in einer räumlichen Anordnung die zur Illusion führen würde. Nur die Bartagamen zeigten eine signifikant erfassbare Bevorzugung der längeren Streifen bei den Kontrollversuchen und auch bei den echten Tests wählten die Bartagamen den anscheinend längeren in der vertikalen Ebene präsentierten Streifen. Letzteres legt nahe, dass Bartagamen genauso wie Menschen diese Wahrnehmungsmuster (Illusion) zeigen. Im Gegensatz dazu ergab sich bei den Köhlerschildkröten keine klare Bevorzugung für die eine oder andere Streifenpräsentationsform. Unsere Ergebnisse lassen die interessante Vermutung zu, dass eine Anisotropie bei der räumlichen Wahrnehmung auch im Reptiliengehirn existiert.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Nun, wie ich finde geht es hier nicht unbedingt um die Frage können Reptilien etwas genauso wie wir Menschen oder nicht, wobei diese Fähigkeiten auch sehr viel mit der anatomischen Stellung der Augen im Schädel und damit mit dem Sehfeld zu tun haben. Diesbezüglich gibt es durchaus Unterschiede zwischen Bartagamen und Köhlerschildkröten. Mir persönlich leuchtet es aber durchaus ein, dass das tierische Gehirn unabhängig von der Artzugehörigkeit diese Fähigkeiten entwickeln würde, wenn sie essentiell für die Existenz einer Spezies sind. Insofern verwundert es mich nicht, dass die Bartagamen indem angebotenen Test sich entsprechend verhielten, denn sie jagen aktiv flinke Beutetiere wie z. B. Grillen, deshalb würde es mich bezüglich des Jagdverhaltens nicht wundern, wenn z.B. Geoemyda spengleri diese Fähigkeit zur Illusion genauso zeigen würde wie die Bartagamen hier. Für Köhlerschildkröten ergibt sich durch das Fehlen dieser Fähigkeit kein Nachteil, denn ihre Futterpflanzen flüchten in der Regel nicht und ein kleineres junges Blatt mag besser sein als ein großes älteres (Ich erinnere an den sogenannten Schildkrötenturf; siehe Walton et al., 2019). Für Jäger von beweglicher, flüchtiger Beute sieht das anders aus, denn hier kann der längere oder größere Wurm oder größere Käfer oder Wurm ein essentielles Mehr an Energiegewinn bedeuten und zwar sowohl für Wachstum als auch in Bezug auf die Reproduktionsenergie und Reproduktionsrate. Ja, und zusätzlich ist die richtige Einschätzung der Größe und Länge sowohl für das Zuschnappen an der geeignetsten Stelle wie auch in Bezug auf die Abschätzung des eigenen Risikos von Bedeutung, denn manche Beute ist auch wehrhaft (siehe dazu den Kommentar zu Krochmal & Roth, 2021). Insofern sollte man sich hüten solche Fähigkeiten unabhängig von der Lebensweise und ökologischen Einnischung eines Lebewesens zu beurteilen! Denn letztendlich kann man auch davon ausgehen, dass die Köhlerschildkröte dabei sogar energetisch besser wegkommt. Ja und nicht zuletzt sagen die Experimente nicht aus, dass die Köhlerschildkröte diese Fähigkeit nicht besitzt, denn sie könnte zum Beispiel durch entsprechende Kopfbewegungen ihr Blickfeld und damit ihren Wahrnehmungshorizont erweitern, wenn es zum Beispiel darum ginge die Größe eines Beutegreifers oder eine andere Gefahr einzuschätzen, denn aus den hier praktizierten Tests lässt sich auch schließen, dass Futter nicht der richtige Anreiz für Köhlerschildkröten ist damit sie diese Fähigkeit zur Illusion konstant demonstrieren würden.
Manche mögen sich nun fragen was uns eigentlich vom Tier unterscheidet? Aber das ist eigentlich ganz einfach es ist die Sprache und die Benutzung von abstrakten Symbolen (z. B. Schriftzeichen oder Formeln), aber auch hier merken Sie schon, dass es diesbezüglich im Alltag auch zwischen Menschen Unterschiede gibt, nämlich in Bezug zum Wortschatz oder in Bezug zum Verständnis von z. B. mathematischen Symbolen, denn wie viele könnten ad hoc mit dem Symbol Quadratwurzel aus -1 etwas anfangen oder wem würde die mathematisch korrekte Schreibweise die in Abbildung 1 zu sehen ist etwas sagen, denn dabei handelt es sich um formelmäßige Darstellung der Gleichungen zur Bestimmung des optimalen Überwinterungsgewicht von Emys orbicularis (siehe Ziegler et al, 2021). Auch diesbezüglich könnten wohl nur jene ad hoc damit effektiv arbeiten für deren alltägliche Tätigkeit dies eine Rolle spielt. Alle anderen mögen es zwar in der Schule einmal gelernt haben und könnten es, wenn es für sie im Alltag wieder notwendig wäre sich wieder aus der Erinnerung abrufen und etwas schneller erlernen, aber ansonsten geraten auch bei uns solche Fähigkeiten in Vergessenheit, weil sich das Gehirn oder besser der Organismus die Energie und metabolische Aktivität einspart die notwendig wäre eine solch ungenutzte Vernetzung und Verschaltung so detailliert aufrecht zu erhalten, dass sie jederzeit ad hoc abrufbar wäre. Insofern sollten wir uns sehr genau überlegen wie wir solche Ergebnisse in Bezug auf die Beurteilung der Reaktionsweisen, Leistungs- und Überlebensfähigkeit von Tieren zu interpretieren haben. Denn wenn wir das nicht tun sagen diese Interpretationen eher etwas über unsere eigenen Unzulänglichkeiten aus als über das wahre Können der untersuchten, nicht menschlichen Lebewesen.
Literatur
Krochmal, A. R., T. C. Roth & N. T. Simmons (2021): My way is the highway: the role of plasticity in learning complex migration routes. – Animal Behaviour 174(2): 161-167 oder Abstract-Archiv.
Walton, R., R. Baxter, N. Bunbury, D. Hansen, F. Fleischer-Dogley, S. Greenwood & G. Schaepman-Strub (2019): In the land of giants: habitat use and selection of the Aldabra giant tortoise on Aldabra Atoll. – Biodiversity and Conservation 28(12): 3183-3198 oder Abstract-Archiv.
Ziegler, C., G.-I. Mărginean & V. Dragos (2021): Optimal body mass-length ratio during hibernation for Emys orbicularis (Linnaeus, 1758) – European Pond Turtle. – Heliyon 7(7): e07607 oder Abstract-Archiv.
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Chelonoidis carbonaria – Köhlerschildkröte