Rotkopf-Schienenschildkröte, Podocnemis erythrocephala, – © Hans-Jürgen Bidmon

Fantin - 2010 - 01

Fantin, C., I. P. Farias, L. A. Monjeló & T. Hrbek (2010): Polyandry in the red-headed river turtle Podocnemis erythrocephala (Testudines, Podocnemididae) in the Brazilian Amazon. – Genetics and Molecular Research 9(1): 435-40.

Polyandrie bei der Rotkopf-Schienenschildkröte Podocnemis erythrocephala (Testudines, Podocnemididae) aus dem brasilianischen Amazonas.

DOI: 10.4238/vol9-1gmr749 ➚

Rotkopf-Schienenschildkröte, Podocnemis erythrocephala, – © Hans-Jürgen Bidmon
Rotkopf-Schienenschildkröte,
Podocnemis erythrocephala,
© Hans-Jürgen Bidmon

Die Gattung Podocnemis besteht aus sechs noch lebenden Arten, einschließlich P. erythrocephala, der Rotkopf-Schienenschildkröte. Daten zur Reproduktionsbiologie dieser Spezies, sowie anderer Vertreter der Gattung Podocnemis>, liegen vor, Details zu deren Strategien insbesondere für P. erythrocephala fehlen jedoch gänzlich. Somit wurden die Verwandschaftsverhältnisse von Schlüpflingen aus sechs Nestern unter Verwendung von Mikrosatellitenmarkern analysiert. Mit Hilfe von vier Mikrosatellitenloci untersuchten wir die Schlüpflinge zweier Lokalitäteten entlang des brasilianischen Amazonas (Santa Isabel do rio Negro und Parintins). Der Genotyp aller Jungtiere konnte identifiziert werden. Da keine Proben der mütterlichen DNS vorlagen wurde der maternale (mütterliche) Genotyp anhand der homozygoten Individuen eines jeden Nests ermittelt.
Als Ergebnis konnte für fünf der sechs Nester multiple Vaterschaften nachgewiesen werden.
Des Weiteren lassen die Daten einen möglichen Unterschied in der Reproduktionsstrategie der beiden untersuchten Populationen erkennen. Diese multipaternalen Reproduktionsbedingungen stellen möglicherweise eine Reproduktionsstrategie dar welche die genetische Diversität dieser Art garantiert.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Mit dem Nachweis multipler Vaterschaften von P. erythrocephala haben die Autoren bewiesen das diese, wie bei anderen Schildkrötenarten, einen wesentlichen Beitrag zum innerartlichen Genfluss leisten (Bowen & Karl 2007), (Johnston et al. 2006), (Moon et al. 2006).
Da Polyandrie anscheinend eine, von fast allen daraufhin untersuchten Arten, mehr oder weniger stark genutzt Strategie darstellt, sollte man sich ernsthaft fragen, ob es sich hier nicht um eine grundlegende Reproduktionseigenschaft der Testudines handelt, die ebenso wie die Fähigkeit zur Hybridisierung mit fertilen Bastarden eine wesentliche Grundlage für ihr hohes und lang andauerndes (mindestens 225 Millionenjahre) Überlebenspotential unter unterschiedlichsten Umweltbedingungen darstellt.
Gerade weil auch die Biologie des Arterhaltungsmanagements zunehmend erkennt, welche wichtige Rolle ein möglichst hoher Genfluss innerhalb reproduktiver Einheiten spielt (Bowen & Karl 2007), (Howeth et al. 2008) stellt sich hier schon die Frage wie wir dies für selten gewordenen Arten berücksichtigen. Sollte es sich hierbei um ein Grundprinzip handeln, dann wäre daraus der Schluss zu ziehen, dass überlebensfähige Arten sich durch Veränderung anpassen müssen und dass die Fragmentierung von Reproduktionseinheiten, sowie die strikte „Artreinheit“ sehr schnell in eine evolutive Sackgasse führen können, da solche Arten einen Teil ihrer Adaptationsfähigkeit einbüßen.
Zum Schluss noch mal eine Frage an all jene die sich rein wissenschaftlich mit solchen evolutiven und „systematischen“ Prozessen beschäftigen: Wie bedeutend und wenn ja welche Rolle spielen Genotyp und Phänotyp in einer von der Umwelt geprägten und mit gestalteten Evolution? Die Beantwortung dieser Frage hat keinen rein theoretischen oder naturphilosopischen Hintergrund, sondern einen rein praktischen, denn wir wissen heute dass selbst sich in der Regel ungeschlechtlich vermehrende Prokaryonten einen sogenannten horizontalen Genfluss realisieren bei dem sich aus molekularbiologischer und biochemischer sowie physiologischer Sicht auch ihr Phänotyp verändern dürfte, ihr Morphotyp meist jedoch nicht. Da die klassische Systematik meist aber nur den Morphotyp betrachtet ja ihn häufig sogar einem Phänotyp gleichsetzt ist hier wirklich Vorsicht bei der Beurteilung der Sachverhalte geboten.

Literatur

Bowen, B. W. & S. A. Karl (2007): Population genetics and phylogeography of sea turtles. – Molecular Ecology 16(23): 4886-4907 oder Abstract-Archiv.

Howeth, J. G., McGaugh S. E & D.A. Hendrickson (2008): Contrasting demographic and genetic estimates of dispersal in the endangered Coahuilan box turtle: a contemporary approach to conservation. – Molecular Ecology 17(19): 4209-4221 oder Abstract-Archiv.

Johnston, E. E., Rand M.S. & S.G. Zweifel (2006): Detection of multiple paternity and sperm storage in a captive colony of the central Asian tortoise, Testudo horsfieldii. – Canadian Journal of Zoology – Revue Canadienne de Zoologie 84(4): 520-526 oder Abstract-Archiv.

Moon, J. C., E. D. McCoy, H. R. Mushinsky & S. A. Karl (2006): Multiple paternity and breeding system in the gopher tortoise, Gopherus polyphemus. – Journal of Heredity 97(2): 150-157 oder Abstract-Archiv.

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