Thomson - 2021 - 01

Thomson, R. C., P. Q. Spinks & H. B. Shaffer (2021): A global phylogeny of turtles reveals a burst of climate-associated diversification on continental margins. – Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 118(7): e2012215118.

Eine globale Schildkrötenphylogenie verweist auf einen klimaassoziierten Ausbruch von Taxonaufspaltungen an den kontinentalen Rändern.

DOI: 10.1073/pnas.2012215118 ➚

Lebende Schildkröten sind im Vergleich zu ihrer weiten geografischen Verbreitung und ihrer langen zurückreichenden Existenz, durch eine außerordentlich niedrige Artenvielfalt charakterisiert. Der für diese Klade weitzurückreichende Fossilrekord legt nahe, dass sowohl das Klima wie auch die Biogeographie für die Ausprägung ihrer Diversität eine wichtige Rolle spielten. Wir untersuchten diese Hypothese indem wir einen Datensatz bestehend aus 591 Schildkrötenindividuen zusammenstellten, der 80 % aller Schildkrötenarten einschließlich von Vertretern aus allen Familien und auch Vertreter aus 98 % aller Gattungen enthielt. Diesen Datensatz nutzten wir für eine zusammenfassende Abschätzung der Phylogenie einschließlich der Zeitphasen für die dabei erfolgten Taxonaufspaltungen. Wir fanden, dass der Schildkrötenstammbaum durch eine relativ konstante Diversifikationsrate (Speziation minus Aussterbeereignisse) charakterisiert ist, die aber ein singuläres punktuelles dreifach erhöhtes Taxonaufspaltungsereignis aufweist. Wir fanden zudem, dass dieses punktuelle Taxonaufspaltungsereignis sowohl zeitlich wie auch geographisch einhergeht mit dem Auftreten neuentstandener kontinentaler Grenzen (Ränder) die während dem Eozän-Oligozän-Übergang vor ungefähr 30 Millionen Jahren entstanden sind. In einem offensichtlichen Kontrast dazu verweist der Fossilrekord aus dieser Zeitperiode auf ein großes, aber regionales Aussterbeereignis. Diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Befunde waren die Folge eines allgemeinen globalen Prozesses bestehend aus einer globalen Abkühlung bei gleichzeitiger Aridifizierung (Austrocknung) zur Zeit des Eozän-Oligozän-Übergangs. Diese Klimaveränderung führte zu einer Aridifizierung, die das Aussterben von Arten in einigen der fossilienreichen Regionen auslöste während die Klimaveränderungen zeitgleich neue Regionen an den Rändern der Kontinente mit neuen freien Habitaten entstehen ließ, die folgerichtig eine Neubesiedlung einhergehend mit einem stark ansteigenden Ausmaß an Speziation ermöglichte, die mit der Erschließung dieser neuen ökologischen Möglichkeiten einherging.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Hier handelt es sich einmal um eine Arbeit die einem Erkenntnisse aus der Vergangenheit liefert, die uns nicht nur eine Erklärung für die rezente Schildkrötenfauna liefert, sondern uns auch einmal wieder verdeutlicht, dass solche Ereignisse auf diesen Planeten eine lange Geschichte haben und mehrfach erfolgt sind (siehe auch z. B. Reid et al., 2019; Sommer et al., 2009). Die Studie zeigt uns aber auch, dass bestimmte Arten eines Tierstammes aussterben, dass aber auch zeitgleich sich neue entwickeln solange einzelne Taxa dieses Tierstamms überleben können von denen aus eine Neubesiedlung neuer oder veränderter Lebensräume erfolgen kann. Sicher mag der derzeitige durch das menschliche Zutun bedingte globale Klimawandel schneller ablaufen als in vergangenen Epochen, aber dennoch müssen wir uns fragen wie wir damit im Hinblick auf den Biodiversitätserhalt umgehen wollen. In der Schlussfolgerung gehen die Autoren dieser Arbeit auch etwas darauf ein indem sie darauf verweisen, dass wir, für den Fall, dass wir bestimmte Schildkrötenarten zukünftig erhalten wollen diese sogar aktiv in Gebiete umsiedeln müssten in denen sie noch überleben können (siehe auch Butler, 2019; Ennen et al.,2021; Anonymus, 2016 und die dortigen Kommentare), weil ihnen ansonsten ähnliche Aussterbeszenarien drohen (siehe z. B. Hofmeyr et al., 2020). Allerdings wenn wir uns die heutige Situation ansehen, in der wir keiner (oder wenn überhaupt nur einer transienten nördlichen Abkühlung durch weiter nach Süden driftende Eisabbrüche) weiteren Abkühlung entgegengehen, sondern eher einer Erwärmung dürften Austrocknungsereignisse meist nur im Inland zum Aussterben beitragen während die durch etliche Forschungsarbeiten bestätigten Meeresspiegelanstiege (Dutton et al., 2015; Myrow et al., 2018; Garbe et al., 2020; Loc et al. 2021; Navarro, 2021; Ketabachi & Jahangie, 2021; Osland et al., 2021) vielleicht schon in diesem Jahrhundert wohl eher zu gravierenderen Aussterbeereignissen und Veränderungen führen wobei die obigen Autoren durchaus mit weiteren Anstiegen weit über das Jahr 2100 hinaus rechnen. In den küstennahen Regionen werden die Süßwasserarten verschwinden, die ihre Habitate durch den ansteigenden Meeresspiegel verlieren werden und die sich nicht an ein Leben in Brack- oder Meerwasser schnell genug anpassen können. Ebenso werden die Landschildkrötenspezies oder Populationen erlöschen die ihren Lebensraum nicht weiter landeinwärts verlagern können. Auch hier werden Arten aussterben was vielleicht auch früher schon der Fall war, nur deren Fossilien werden wohl vom Meer verdriftet oder im Schlickboden der Ozeane schneller zersetzt, als dass sie unsere Nachkommen noch als regional gehäuft auftretende Fossilfunde ausfindig machen könnten. Allerdings würde das dann aber auch bedeuten, dass sich die Areale die von Meeresschildkröten als Niststrände genutzt werden könnten auch weiter ins heutige Landesinnere verschieben und damit auch in im Vergleich zu heute höhergelegenen Regionen verlagern dürften. Mit zunehmender Erwärmung dürften sich aber auch die Lebensräume vieler tropischer Arten wieder weiter nach Norden ausdehnen können (Martin & Root, 2020; Butler, 2019). Wenn wir diesen Aspekt einmal in den Vordergrund unserer Überlegungen rücken, dann stellt sich auch die Frage, welchen Stellenwert die derzeit häufigen Studien an den derzeitigen Nistplätzen von Meeresschildkröten oder auch Land- und Süßwasserschildkröten überhaupt zukünftig haben werden, wenn es diese Niststrände bzw. Nistplätze in der Form so gar nicht mehr geben wird, da sie vielleicht schon zum Ende dieses Jahrhunderts unter Wasser liegen dürften? Wäre es da nicht sinnvoller heute schon mal an den Orten Temperaturprofile zu erstellen an denen den Prognosen der Klimaforscher nach, die zukünftigen Niststrände liegen dürften (siehe dazu auch Staines et al., 2021 und den dortigen Kommentar)? Letzteres würde ja auch andere heute schon an Brackwasser angepasste Arten betreffen, denn mit steigendem Meeresspiegel dürften sich auch deren Nistplätze und Lebensräume die heute in den Gebieten der Flussdeltas sowie der küstennahen Sumpfgebiete liegen wahrscheinlich weit mehr ins heutige Landesinnere und in heute noch höhergelegene zukünftige Habitate verlagern. Wir sehen also Umweltveränderungen insbesondere, wenn sie global auftreten, machen so manches lokale Arterhaltungsprogramm sowieso zunichte, wobei die Betonung auf lokal liegt. Das heißt nicht, dass wir den Artenschutz oder besser die Arterhaltung vernachlässigen sollten, wenn wir eine Art erhalten wollen, denn dann ginge es ja darum diese Art solange unter den heutigen Bedingungen, gemanagter Weise zu erhalten bis sie einmal vielleicht aus eigener Kraft sich in einer zukünftig veränderten Umwelt erhalten kann und sich vielleicht sogar zur Keimzelle zukünftiger Diversifikationsereignisse herauskristallisieren könnte. Die Frage die sich aber für uns als global agierende Gesellschaft daraus ergibt dürfte doch die sein – Wie viel Kraft, Zeit, Energie und Geld wir in die Arterhaltung an den Orten investieren sollten an denen nach den Prognosen der Klimaforscher ein Überleben für diese Arten gar nicht mehr möglich sein wird? Letzteres wird ja gerade von der obigen Arbeit angedeutet, da die küstennahen Regionen in denen sich die rezente Schildkrötendiversität entwickelte bald wieder unter Meerwasser liegen würden. Vielleicht wären diese Maßnahmen dann zur Herrichtung und Erhaltung zukünftiger Habitate mit Überlebenspotential für die davon betroffenen Arten weit besser eingesetzt! Insofern liefert diese Arbeit auch ein schönes Beispiel dafür welchen Beitrag auch auf diesem Gebiet Grundlagenforschung leisten kann, denn sie liefert uns klare Hinweise darauf wie zukunftsweisende, effektive Arterhaltung aussehen müsste und dass wir dazu auch in gewisser Weise umdenken müssen, anstatt nur alten Argumentationen zu folgen, die durch ständiges Wiederholen auch langfristig keine Verbesserung bringen werden, sondern eher dazu beitragen dürften viele Ressourcen falsch oder an falschen Orten zu verschwenden.

Literatur

Anonymus (2016): Moving an endangered tortoise (Perth, Australia). – Science 353(6300): 628-629 oder Abstract-Archiv.

Butler, C. J. (2019) A Review of the Effects of Climate Change on Chelonians. – Diversity 2019(11): 138; DOI: 10.3390/d11080138 ➚.

Dutton, A., A. E. Carlson, A. J. Long, G. A. Milne, P. U. Clark, R. DeConto, B. P. Horton, S. Rahmstorf & M. E. Raymo (2015) Sea-level rise due to polar ice-sheet mass loss during past warm periods. – Science 349(6244): aaa4019; DOI: 10.1126/science.aaa4019 ➚.

Ennen, J. R., M. Agha, S. C. Sweat, W. A. Matamoros, J. E. Lovich, J. B. Iverson, A. G. J. Rhodin, R. C. Thomson, H. B. Shaffer & C. W. Hoagstrom (2021) A watershed moment: Analysis of sub-basins refocuses the geography of turtle conservation across the globe. – Biological Conservation 253: 108925; DOI: 10.1016/j.biocon.2020.108925 ➚.

Garbe, J., T. Albrecht, A. Levermann, J. F. Donges & R. Winkelmann (2020) The hysteresis of the Antarctic Ice Sheet. – Nature 585(7826): 538-544; DOI: 10.1038/s41586-020-2727-5 ➚.

Hofmeyr, M. D., F. Ihlow, P. Fouche & S. R. Daniels (2020): Niche divergence corresponds to genetic differentiation within the parrot-beaked tortoise Homopus areolatus (Reptilia: Testudinidae), endemic to South Africa. – Zoological Journal of the Linnean Society 190(4): 1256-1273 oder Abstract-Archiv.

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Loc, H. H., D. Van Binh, E. Park, S. Shrestha, T. D. Dung, V. H. Son, N. H. T. Truc, N. P. Mai & C. Seijger (2021): Intensifying saline water intrusion and drought in the Mekong Delta: From physical evidence to policy outlooks. – Science of The Total Environment 757: 143919; DOI: 10.1016/j.scitotenv.2020.143919 ➚.

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Myrow, P. M., M. P. Lamb & R. C. Ewing (2018): Rapid sea level rise in the aftermath of a Neoproterozoic snowball Earth. – Science 360(6389): eaap8612; DOI: 10.1126/science.aap8612 ➚.

Navarro, F. J. (2020): Sea-level rise: Which is the role of glaciers and polar ice sheets? – Metode Science Studies Journal 11: 173-181; DOI: 10.7203/metode.11.16988 ➚.

Osland, M. J., P. W. Stevens, M. M. Lamont, C. R. Bursa, K. M. Hart, J. H. Waddle, C. A. Langtimm, C. M. Williams, B. D. Keim, A. J. Terando, E. A. Reyier, K. E. Marshall, M. E. Loik, R. E. Boucek, A. B. Lewis & J. A. Seminoff (2021): Tropicalization of temperate ecosystems in North America: The northward range expansion of tropical organisms in response to warming winter temperatures. – Global Change Biology; DOI: 10.1111/gcb.15563 ➚.

Reid, B. N., J. M. Kass, S. Wollney, E. L. Jensen, M. A. Russello, E. M. Viola, J. Pantophlet, J. Iverson, M. Z. Peery, C. J. Raxworthy & E. Naro-Maciel (2019): Disentangling the genetic effects of refugial isolation and range expansion in a trans-continentally distributed species. – Heredity 122(4): 441-457 oder Abstract-Archiv.

Sommer, R. S., C. Lindqvist, A. Persson, H. Bringsoe, A. G. J. Rhodin, N. Schneeweiss, P. Široký, L. Bachmann & U. Fritz (2009): Unexpected early extinction of the European pond turtle (Emys orbicularis) in Sweden and climatic impact on its Holocene range. – Molecular Ecology 18(6): 1252-1262 oder Abstract-Archiv.

Staines, M. N., D. T. Booth, C. A. M. Hof & G. C. Hays (2020): Impact of heavy rainfall events and shading on the temperature of sea turtle nests. – Marine Biology 167(12): 190 oder Abstract-Archiv.