Zierschildkröte, Chrysemys picta, auf der Präzisionswanderung – © Timothy C.  Roth II

Krochmal - 2023 - 01

Krochmal, A. R. & T. C. Roth II (2023): The case for investigating the cognitive map in nonavian reptiles. – Animal Behaviour 197: 71-80.

Ein Grund zur Untersuchung von kognitiv erstellten Orientierungskarten bei nicht zu den Vögeln zählenden Reptilien.

DOI: 10.1016/j.anbehav.2023.01.006 ➚

Zierschildkröte, Chrysemys picta, – © Hans-Jürgen Bidmon
Zierschildkröte, Chrysemys picta,
© Hans-Jürgen-Bidmon

Obwohl nicht ganz ohne Kontroversen gelten heute die kognitiven Orientierungsleistungen bei Säugetieren und Vögeln (Vogel-Reptilien) als allgemein akzeptiert und plausibel. Die Beweise für vergleichbare kognitive Fähigkeiten bei anderen Wirbeltieren und Evertebraten werden bislang im Allgemeinen noch als wenig akzeptabel eingeschätzt. Eine vielfältige Reihe von neueren Arbeiten an nicht zu den Vögeln gerechneten Reptilien legen aber nahe, dass auch diese Taxa tatsächlich über höhere kognitive Prozessierung verfügen und prinzipiell dazu befähigt sind, kognitive Orientierungskarten zu nutzen. Um die Möglichkeiten zur Nutzung einer kognitionbasierten Orientierungskarte bei einem nicht zu den Vögeln zählenden Reptil zu untersuchen wiederholten wir die Bewegungsanalysen bei einer semiaquatischen Schildkröte (Chrysemys picta) mit unserem sehr gut nutzbaren System, indem Schildkröten einer hochgradig genauen einmal genutzten Wanderroute immer wieder folgen. Wir bestimmten die Wandergeschwindigkeit und die Abweichungen von der einmal eingeschlagenen Wanderrichtung vor, während und nach einer pharmakologischen Manipulation, die dazu geeignet war, die Nutzung gespeicherter räumlicher Informationen zu unterbinden, genauso wie sie verhinderte neue Informationen zu erinnern. Wir beobachteten, dass die Schildkröten vor der Behandlung linear entlang ihrer traditionellen Wanderroute wanderten. Nach der pharmakologischen Behandlung wurden die Wanderungen der Schildkröten sehr verschlungen, da sie zum Teil hunderte Meter von ihren vorherigen Wanderrouten abwichen. Nachdem die Schildkröten sich aber von dem pharmakologischen Eingriff erholt hatten und ihre räumlichen kognitiven Fähigkeiten wieder nutzen konnten, kehrten sie auf direktem Wege wieder zu ihrer ursprünglich erlernten Wanderroute zurück, wobei sie sich geradlinig fortbewegten, was auf eine gerichtete und zielführende Navigation schließen lässt. Obwohl auch andere Prozesse eine Erklärung für die Bewegungsmuster liefern könnten, waren wir in der Lage, diese durch neue Untersuchungen und durch die Re-Evaluation vorheriger Daten auszuschließen. Was sich aus diesen Daten ableiten lässt, ist eine unumstößliche Verhaltensbeobachtung, die mit der Nutzung einer kognitiv erstellten Orientierungskarte bei Schildkröten in unserem System einhergeht. Aufgrund dieser Datenlage rufen wir andere Wissenschaftler dazu auf, unvoreingenommen die Möglichkeiten zur Nutzung kognitiv basierter Orientierungskarten bei Nichtmodellspezies wie den nicht zu den Vögeln zählenden Reptilien zu untersuchen, um das Verständnis für die Evolution von Kognition zu erweitern.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Bei dieser Arbeit zur Überprüfung und Erweiterung der früheren Befunde (Roth & Krochmal, 2015; Roth et al., 2021) verweisen die Autoren nochmals auf die kognitiven Fähigkeiten bei – Nennen wir es mal nach alter falscher Tradition ‚Niederen–Tieren‘. Ich denke aber, dass die Zeiten, wo wir Lebewesen im allgemeinen Kognition nicht zugestehen, vorbei sein dürften, denn es gibt zu viele neue Daten, die diesen alten Irrglauben widersprechen. Es verblüfft eher, warum das selbst von der Wissenschaft so lange übersehen wurde, denn wer richtig hinschaute, konnte allein durch das Überdenken von Beobachtungen zu dem Schluss kommen, dass auch bei diesen Lebewesen Kognitionsfähigkeit eine Rolle spielt (Siehe dazu auch Szabo et al., 2020 und die dort zitierte Literatur). Heute sind wir eigentlich fast schon so weit, dass man sich fragen muss, welche Lebewesen ohne die eine oder andere Form oder Entwicklungsstufe von Kognition auskommen können (siehe Reber et al., 2023)? Ich denke, dass diese Frage aber in Bezug zu unseren, wie schon so oft angeprangertem Schubladendenken, von wesentlicher Bedeutung ist, obwohl sie manchmal immer noch zu Ablehnung führen mag. Letzteres vor allem bei jenen, die sich ausnahmslos auf wissenschaftliche und vielleicht auch noch quantitative Beweisführung beschränken wollen. Sicher ist das Vorhandensein von Kognition, nicht wie von den Autoren dieser Arbeit in dieser Ausführlichkeit dargelegt, für viel andere Spezies weit weniger gut belegt oder aufgrund von noch unzureichenden Methoden wissenschaftlich exakt belegbar, aber wir sollten auch erkennen, dass wir uns damit eher selbst schaden als nützen. Denn Wissenschaft beschränkt sich meist auf kleine nachweisbare Schritte, die oftmals sogar aus dem, nennen wir es mal Ökosystemkontext herausgerissen, zwar quantifizierbare statistisch abgesicherte Daten liefern, die aber mit der Realität innerhalb eines systemischen Kontexts gar nichts mehr zu tun haben. Künstliche Intelligenz (KI) beinhaltet zwar auch große Gefahren, aber sie bietet wahrscheinlich der wissenschaftlich orientierten Menschheit die Möglichkeit aus all den wissenschaftlich erarbeiteten Einzelbeobachtungen mal ein systemisch orientiertes Ganzes zusammenzustellen. Dieses bislang fiktive „Ganze“ entzieht sich bis heute unserem Wissen und beschränkt auch unsere Fähigkeit, sogenannte Ökosysteme oder Belebte – Systeme zu erhalten (siehe Scheffer & Van Nes, 2018). Denn wenn man sich solche Aufrufe zum komplexen Biodiversitätserhalt mal vor Augen führt, dann scheitern wir ja sogar heute noch daran, aus dem, was wir wissenschaftlich erarbeitet haben, ganzheitliches und übergreifendes Wissen zu kreieren, wobei uns auch klar sein sollte, dass selbst das noch immer nicht der Realität entsprechen dürfte. Wenn ich es mal so definieren darf, basiert ja Realität auch auf den Vorgängen, die wir noch nicht kennen oder die sich bis heute unserer wissenschaftlichen Bearbeitung und Erkenntnis aus methodischen Gründen entziehen. Letzteres erinnert doch sehr an Karl Jaspers: Das Unheil menschlicher Existenz beginnt, wenn das wissenschaftlich Gewusste für das Sein selbst gehalten wird und wenn alles, was nicht wissenschaftlich ist, als nicht existent gilt.

Literatur

Reber, A. S., F. Baluska & W. B. Miller (2023): The sentient cell. – Oxford University Press 1-249; DOI: 10.1093/oso/9780198873211.001.0001 ➚.

Roth, T. C. II & A. R. Krochmal (2015): The Role of Age-Specific Learning and Experience for Turtles Navigating a Changing Landscape. – Current Biology 25(3): 333-337 oder Abstract-Archiv.

Roth, A. D., A. R. Krochmal & T. C. Roth (2021): Contribution to the special issue on reptile cognition: Context-specific cue use in the Eastern painted turtle (Chrysemys picta) and its effects on decision making. – Behaviour 158(12-13): 1101-1120 oder Abstract-Archiv.

Scheffer, M. & E. H. van Nes (2018): Seeing a global web of connected systems. – Science 362(6421): 1357; DOI: 10.1126/science.aav8478 ➚.

Szabo, B., D. W. A. Noble & M. J. Whiting (2020): Learning in non-avian reptiles 40 years on: advances and promising new directions. – Biological reviews of the Cambridge Philosophical Society 96(2): 331-356 oder Abstract-Archiv.

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