Fritz - 2006 - 02

Fritz, U., M. Auer, A. Bertolero, A. Heylan, T. Fattizzo, A. K. Hundsdorfer, M. M. Sampayo, J. L. Pretus, P. Siroky & M. Wink (2006): A rangewide phylogeography of Hermann's tortoise, Testudo hermanni (Reptilia: Testudines: Testudinidae): implications for taxonomy. – Zoologica scripta 35(5): 531-543.

Phylogeographie des gesamten Verbreitungsgebietes der Griechischen Landschildkröte, Testudo hermanni (Reptilia: Testudines: Testudinidae): Folgerungen für die Taxonomie

DOI: 10.1111/j.1463-6409.2006.00242.x ➚

Griechische Landschildkröte, Testudo hermanni boettgeri, – © Hans-Jürgen Bidmon
Griechische Landschildkröte,
Testudo hermanni boettgeri,
© Hans-Jürgen Bidmon

Die Griechische Landschildkröte (Testudo hermanni), die am besten erforschte Landschildkrötenart der westlichen Paläarktis, hat ein dünnes natürliches Verbreitungsmuster, das die mediterranen Gebiete der Iberischen, der Apenninischen und der Balkanhabinseln sowie die Inseln Sizilien, Korsika und Sardinien einschließt. Der westliche Teil des Verbreitungsgebietes wird traditionell als Habitat von T. h. hermanni betrachtet, wohingegen T. h. boettgeri auf dem Balkan vorkommt. Die Taxonomie dieser Schildkröte wurde in den letzten Jahren herausgefordert, als die beiden Unterarten als vollständige Arten angesehen wurden und die zentraldalmatinische Population von T. h. boettgeri als dritte Art, T. hercegovinensis eingestuft wurde. Unter Verwendung eines etwa 1150 Basenpaare umfassenden (mitochondrialen) mtDNS-Fragments (Zytochrom-b-Gen und angrenzende Teile des tRNS-Thr Gens) untersuchten wir die mtDNS-Diversität bezüglich der gegensätzlichen Konzepte zweier Unterarten oder dreier Arten. Sieben nahe verwandte Haplotypen wurden vom westlichen Mittelmeerraum und 15 verschiedene, teilweise stark abweichende Haplotypen wurden vom Balkan identifiziert. Die Haplotypen aus dem westlichen Mittelmeerraum wichen in 16-42 Mutationsschritten von jenen auf dem Balkan ab. Ein bis sieben Mutationsschritte traten innerhalb der westlichen Populationen auf. Die Balkan-Haplotypen, die sich in 1-37 Nukleotiden unterschieden, gruppieren sich anhand der Parsimonie-Netzwerkanalyse (maximale Sparsamkeit, kürzeste Entwicklungsstrecke für eine Merkmalsgruppe) in drei größere Ansammlungen, die teilweise einen Abweichungsgrad aufweisen, der dem der westlichen Haplotypen in Relation zu den Balkan-Haplotypen entspricht. Die Raten der Evolutionssequenz (abfolge) sind in beiden Regionen unterschiedlich und die geringen Abweichungen, die Paläogeographie, sowie die fossilen Nachweise lassen eine langsam laufendere molekulare Evolutions-„Zeit“ im westlichen Mittelmeerraum vermuten.
Während die Monophylie (Geschlossenheit) im westlichen mediterranen Raum gut unterstützt wird, ergeben sich widersprechende Hinweise für die Balkan-Haplotypen. Maximale Parsimonie unterstützt die Monophylie der Balkan-Haplotypen, jedoch zeigen andere phylogenetische Analysen (Bayesian, ML, ME) an, dass sie in Bezug auf die westliche Klade paraphyletisch sein könnten. Diese Resultate implizieren, dass der Differenzierungsprozess trotz der Allopatrie (räumlichen Trennung) der westlichen und Balkanpopulationen noch nicht abgeschlossenen ist, und alle Populationen von T. hermanni auf Artniveau liegen.
Im westlichen Mittelmeerraum wurde kein klares geographisches Muster bezüglich der Verbreitung der Haplotypen gefunden. Die Verbreitung der Balkan-Haplotypen ist strukturierter. Eine Gruppe von ähnlichen Haplotypen tritt im östlichen Balkan auf (Bulgarien, Republik Mazedonien, Rumänien und die griechischen Regionen Euböa, Mazedonien, Peloponnes, Thessalien und Thrakien). Zwei verschiedene Haplotypen, die sich in acht bis neun Mutationsschritten von den häufigsten Haplotypen der ersten Gruppe unterscheiden, sind auf die westliche Seite des Taygetosgebirges auf der Peloponnes beschränkt. Eine weitere Gruppe, die über vier bis 23 Mutationsschritte mit den Haplotypen der östlichen Balkangruppe verbunden ist, kommt entlag der westlichen Hänge des Dinardischen Gebirges und des Pindosgebirges (Istrien, Dalmatien, westliches Griechenland) vor. Taygetos-Haplotypen sind innerhalb anderer Haplotypen in allen phylogenetischen Studien eingebettet und die Unterstützung einer Monophylie ist für die anderen Balkangruppen bestenfalls als schwach zu nennen. Wir schließen daraus, dass die Benutzung des traditionellen Modells mit zwei Unterarten für Testudo hermanni fortgesetzt werden sollte. Die Phylogeographien von Testudo hermanni und Emys orbicularis, einer gemeinsam verbreiteten Schildkröte, weichen deutlich ab, aber teilen einige Ähnlichkeiten. Beide wurden dazu gedrängt, während der Eiszeiten des Pleistozäns in südlichere Gefilde abzuwandern. Mit Beginn der Erwärmung im Holozän unternahm E. orbicularis eine schnelle Erweiterung ihres Verbreitungsgebietes in mildere Regionen Europas und des benachbarten Asiens, die von den eiszeitlichen Zufluchtsrefugien auf dem Balkan und in der nördlichen Region des Schwarzen Meeres aus wiederbesiedelt wurden. Im Gegensatz dazu blieb T. hermanni mehr oder weniger auf die eiszeitlichen Zufluchtsrefugien und benachbarte Regionen beschränkt, was in einem viel kleineren Verbreitungsgebiet und einer allopatrischen (räumlich getrennten) und parapatrischen (getrennten, aber angrenzenden) Verbreitung der Haplotypengruppen und Kladen resultiert. MtDNS-Linien sind in E. orbicularis unterschiedlicher als das bei T. hermanni auf den südlichen europäischen Halbinseln der Fall ist. Das weist für E. orbicularis auf mehrere abgegrenzte eiszeitliche Zufluchtsorte in großer Nähe hin sowie auf eine extensive Vermischung während der Erweiterung des Verbreitungsgebietes im Holozän. Für T. hermanni ist es wahrscheinlich, dass nur auf der Balkan-Halbinsel mehr als ein Zufluchtsort existierte, entsprechend der aktuell parapatrischen Verbreitungsgebiete der Haplotypen. Auf den alten westlichen Mittelmeerinseln Korsika und Sardinien treten keine differenzierten (E. orbicularis) oder nur schwach differenzierbare (T. hermanni) Haplotypen auf, selbst obwohl es Belege gibt, dass beide Arten auf Korsika mindestens seit dem mittleren Pleistozän vorkommen. Hohe Gebirgsketten bilden größere Barrieren, die distinkte mtDNS Kladen oder Gruppen bei beiden Arten (E. orbicularis und T. hermanni) separieren.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Hierbei handelt es sich wirklich einmal um eine sehr schöne und umfassende Analyse und Erklärung der Entstehung der heute vorgefundenen Testudo hermanni Arten bzw. Populationen und deren Verwandtschaftsbeziehungen. Was uns zum einen die Zeiträume klar macht, in welchen sich die unterschiedlichen heute von vielen gehaltenen Linien entwickelt haben, zum anderen aber auch zeigt, wie weit sich die eine oder andere Gruppe verwandtschaftlich (genetisch) auseinander entwickelt hat. Letzteres hat ja gerade bei den Balkanpopulationen morphologische, eventuell auch klimatisch bedingte morphologische Konsequenzen zur Folge gehabt, die wohl in Bezug auf die fehlenden Inguinalschilde bei T. hercegovinensis deutlich werden, die sich aber auch insbesondere bei den Populationen in Rumänien und Bulgarien bezüglich der Maximalgröße erkennen lassen. Gerade diese sehr großen Weibchen aus letzteren Populationen, die heute noch bei manchen Haltern meist aus Altbeständen anzutreffen sind, können oft von den Männchen der grundsätzlich kleiner bleibenden Populationen des südwestlichen Griechenlands nicht optimal befruchtet werden. Ein Umstand, der häufig nicht auf falscher Haltung beruht und meist erst zufriedenstellend gelöst werden kann, wenn auch ein entsprechend großes männliches Tier aus einem Altbestand erworben werden kann. Ob man nun vor diesem Hintergrund die hier untersuchten Tiere als eventuelle „Eurotestudo“ irgendwelchen „Afrotestudo“ oder von mir mal einfach so erfundenen noch zu postulierenden „Vorderasiotestudo“ etc. gegenüberstellen sollte, sei dahin gestellt (siehe de Lapparent de Broin et al. 2006). Denn jeder Lebensraum erfordert seine spezifischen Anpassungen, die trotz enger verwandtschaftlicher Beziehungen zu morphologisch divergierenden Linen führen kann, während sie im umgekehrten Fall auch bei kaum verwandten Arten die Ausprägung sehr ähnlicher bis zuweilen gleicher morphologischer Merkmale bei Besiedlung des gleichen Lebensraums erzwingen kann (siehe Praschag et al. 2006 und Le et al. 2006).

Literatur

de Lapparent de Broin, F., R. Bour, J. F. Parham & J. Perälä (2006): Eurotestudo, a new genus for the species Testudo hermanni Gmelin, 1789 (Chelonii, Testudinidae). – Comptes Rendus Palevol 5(6): 803-811 oder Abstract-Archiv.

Le, M., C. J. Raxworthy, W. P. McCord & L. Mertz (2006): A molecular phylogeny of tortoises (Testudines: Testudinidae) based on mitochondrial and nuclear genes. – Molecular Phylogenetics and Evolution 40(2): 517-531 oder Abstract-Archiv.

Praschag, P., C. Schmidt, G. Fritzsch, A. Müller, R. Gemel & U. Fritz (2006): Geoemyda silvatica, an enigmatic turtle of the Geoemydidae (Reptilia: Testudines), represents a distinct genus. – Organisms Diversity & Evolution 6(2): 151-162 oder Abstract-Archiv.

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