Köhlerschildkröte, Chelonoidis carbonaria, – © Hans-Jürgen Bidmon

Wilkinson - 2009 - 01

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Wilkinson, A., S. Coward & G. Hall (2009): Visual and response-based navigation in the tortoise (Geochelone carbonaria). – Animal Cognition 12(6): 779-787.

Visuelle und rückmeldungsbasierte Navigation bei der Landschildkröte (Geochelone carbonaria).

DOI: 10.1007/s10071-009-0237-9 ➚

Köhlerschildkröte, Chelonoidis carbonaria, – © Hans-Jürgen Bidmon
Köhlerschildkröte,
Chelonoidis carbonaria,
© Hans-Jürgen Bidmon

Sehr viele Forschungsarbeiten untersuchten die räumliche Wahrnehmung bei Säugetieren und Vögeln. Die Daten lassen vermuten, dass der Hippocampus dabei eine wichtige Rolle spielt. Allerdings besitzen Reptilien keinen Hippocampus. Es wurde postuliert, dass der mediale Kortex der Reptilien eine gleiche Rolle spielt wie der Hippocampus, allerdings gibt es kaum Verhaltensstudien, die dies direkt untersucht haben. Konsequenterweise untersuchen wir mit dieser Studie die Rolle von externen Stimuli für die räumliche Navigation bei der Köhlerschildkröte (Geochelone carbonaria) unter Verwendung eines achtarmigen, radialen Testsystems (Laufsteg). Im ersten Experiment wurde dieser radiale achtarmige Laufsteg von einem schwarzen Vorhang umgeben, auf dem geometrische Figuren angebracht waren. Nachdem die Landschildkröte sich so weit angepasst hatte, dass sie sich nicht mehr zufällig auf den Armen des Laufstegs orientierte, begannen die Tests, indem die geometrischen Figuren (die zur visuellen Orientierung dienten) entfernt wurden. Die Orientierung der Schildkröte auf den Armen des Laufstegs blieb unverändert, nachdem die Figuren entfernt waren. Die Landschildkröte hatte sich eine Strategie angewöhnt, wobei sie bei einem bestimmten Arm abbog. In einem zweiten Experiment wurde der Vorhang komplett entfernt, so dass die Schildkröte ein reiches Angebot an optisch sichtbaren Gegenständen zur Verfügung hatte, um sich im Raum zu orientieren. Die Schildkröte reagierte dabei so, dass sie die vorherige Strategie, bei einem bestimmten Arm die Richtung zu ändern, signifikant verringerte, was zeigte, dass sie zunehmend andere sichtbare Strukturen zur Orientierung nutzte, um sich auf dem achtarmigen Laufsteg zu orientieren. Dieser Typ einer umgebungsabhängigen Strategie innerhalb dieses spezifischen Testkontexts wurde bei Säugetieren und Vögeln so nicht beobachtet, was vermuten lässt, dass der mediale Kortex der Reptilien nicht genauso arbeitet wie der Hippocampus.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Nun der mediale Kortex der Reptilien wurde nie funktionell dem Hippocampus der höheren Wirbeltiere gleichgesetzt, sondern eher von der Ontogenese (Entwicklung) her dem Archikortex der Säuger gleichgesetzt. Wie man schließen könnte, scheint der mediale Kortex dieser Schildkröte mehr oder andere Möglichkeiten zu bieten als der Hippocampus, denn was die Autoren gezeigt haben ist doch, dass für die Köhlerschildkröte geometrische Figuren auf schwarzem Hintergrund keine Orientierungshilfen darstellen, während andere Objekte, die im zweiten Teil des Experiments wohl sichtbar wurden, durchaus zur Orientierung herangezogen wurden. Ob man grundsätzlich solche Gleichsetzungen auf funktioneller Ebene machen kann, ist sehr fraglich, denn wir wissen heute, dass Fische, die noch nicht mal einen medialen Kortex aufweisen, diese räumlichen Orientierungsleistungen vollbringen, ja selbst Insekten können das. Insofern sind solche funktionellen Gleichsetzungen wohl sinnlos, da jedes dieser Nervensysteme andere funktionelle Organisationssysteme nutzt, um zu vergleichbarer Leistungsfähigkeit zu kommen, denn letztendlich hängt das Überleben davon ab, egal ob es sich dabei um eine Biene, eine Ameise, einen Fisch, ein Reptil oder einen Säuger handelt. Zudem muss man mit berücksichtigen, dass verschiedene Spezies und Entwicklungsstufen auch unterschiedliche Sinnesorgane und Fähigkeiten nutzen. Das erklärt sich aus den unterschiedlichen Fähigkeiten, da ein Tier, das einen Magnetsinn nutzen kann, andere Möglichkeiten hat, als eines was, dies nicht kann. Wer kein UV-Licht sieht, kann UV-Licht oder Gegenstände, die in diesem Bereich das Licht reflektieren nicht zur Orientierung nutzen. Deshalb sollte es uns eigentlich nicht mehr so sehr verwundern, wenn diese Vergleichbarkeit der Hirnstrukturen so auf funktioneller Ebene nicht zu trifft. Dennoch könnte auch jetzt noch jeder der Annahme folgen, dass aus ontogenetischer Sicht der mediale Kortex der Reptilien dem Hippocampus der Vögel und Säuger entspricht. Denn das Experiment hat ja nur gezeigt, dass die Schildkröte diese Hirnregion etwas anders nutzt. Bei uns würde ja auch niemand behaupten, dass das ein Mathematiker, der das Telencephalon vielleicht aufgrund seiner Fähigkeiten zur Problemlösung etwas anders einsetzt als der Durchschnittsmensch, auch gleich etwas anderes als ein Telencephalon besitzen müsste.
Allerdings, was mich bei dieser Arbeit etwas staunen lässt, ist die Fähigkeit dieser Landschildkröte so flexibel auf die Veränderungen reagieren zu können, und ihre Orientierungsstrategie den Umweltreizen entsprechend anzupassen. Ich denke, da zeigt dieses meist als träge und einfältig eingestufte Lebewesen eine erstaunliche Leistung, um die sie so mancher, der ohne elektronisches Navigationssystem kaum von A nach B finden würde, durchaus beneiden könnte. Es wundert mich nicht, dass Tiere mit solchen kognitiven Leistungen auch zu gerichteten Wanderungen, ja sogar zielgerichtetem Schwimmverhalten fähig sind (siehe Strong & Walde 2006). Hier kann ich nur wieder empfehlen, sich klarzumachen, dass jedes Lebewesen seiner Umwelt entsprechend angepasst ist und mit den für seine Umwelt notwendigen Fähigkeiten ausgestattet ist. Wir sollten uns also eher selbst davor hüten, Tieren falsche Prädikate zuzuschreiben, die so gar nicht zutreffen, bloß weil sie sich anders verhalten und wir ihr Verhalten als nicht ebenbürtig einschätzen. Solche Diskussionen pflegte meine Großmutter mit den Worten abzutun: Selbstüberschätzung ist eine falsche Zier, doch weiter kommt man ohne ihr!

Literatur

Strong, J. N. & A. D. Walde (2006): Geochelone carbonaria (Red-footed Tortoise) swimming. – Herpetological Review 37(4): 457-458 oder Abstract-Archiv.

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