Geierschildkröte, Macrochelys temminckii, – © Dick Bartlett

Thomas - 2014 - 01

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Thomas, T. M., M. C. Granatosky, J. R. Bourque, K. L. Krysko, P. E. Moler, T. Gamble, E. Suarez, E. Leone, K. M. Enge & J. Roman (2014): Taxonomic assessment of Alligator Snapping Turtles (Chelydridae: Macrochelys), with the description of two new species from the southeastern United States. – Zootaxa 3786(2): 141-165.

Eine taxonomische Überprüfung der Geierschildkröten (Chelydridae: Macrochelys), mit der Beschreibung von zwei neuen Arten aus den südöstlichen Vereinigten Staaten.

DOI: 10.11646/zootaxa.3786.2.4 ➚

Geierschildkröte, Macrochelys temminckii, – © Dick Bartlett
Geierschildkröte,
Macrochelys temminckii, © Dick Bartlett

Die Geierschildkröte, Macrochelys temminckii, ist eine große aquatische Schildkröte, die nur in den Flusssystemen lebt, die in den Golf von Mexiko münden. Frühere molekulare Analysen, die sowohl mitochondriale als auch nukleäre DNS verwendeten, ließen vermuten, dass es bei Macrochelys eine signifikante Variabilität innerhalb des Verbreitungsgebiets gibt, wobei sich drei distinkte Gruppierungen erkennen ließen (westliche, zentrale und östliche = Suwannee). Allerdings gab es diesbezüglich bislang keinerlei neue taxonomische oder morphologische Analysen. In dieser Studie testen wir die früheren Hypothesen für die Existenz distinkter geographischer Gruppen, indem wir unter Verwendung der Bayesian-Inferenz die Morphologie und die phylogeographische, genetische Struktur nochmals analysierten und zusätzlich untersuchten, wann sich innerhalb eines Koaleszensrahmens die Linien aufgespalten haben. Wir fassen die Fossilnachweise zusammen und diskutieren die phylogeographischen und taxonomischen Anhaltspunkte für die Existenz von drei distinkten Evolutionslinien. Wir vermaßen die cranialen (n=145) und post-cranialen (n=104) Merkmale bei im Feld gefangenen Individuen und an Museumsexemplaren. Ebenso analysierten wir 420 Basenpaare (bp) der mitochondrialen DNS-Sequenzdaten für 158 Macrochelys. Auch fossile Macrochelys von vor ca. 15-16 Millionen Jahren bis heute wurden untersucht, um die historische Verbreitung zu erfassen und um die fossilen Taxa zu überprüfen. Die morphologischen wie auch die molekularen Daten bestätigten die signifikanten geographischen Unterschiede und ergaben Anhaltspunkte für vermutlich drei Aufspaltungen, die das Artniveau zwischen den genetischen Evolutionslinien erreichen. Der Holotypus für Macrochelys temminckii gehört zur westlichen Linie. Daher beschreiben wir zwei neue Arten als Macrochelys apalachicolae sp. nov. für die zentrale Linie und Macrochelys suwanniensis sp. nov. für die östliche Linie (Suwannee-Flusssystem). Unsere Abschätzung der Abspaltungszeiten lassen vermuten, dass der jüngste gemeinsame Vorfahre (MRCA) von M. temminckii (Westen) und M. apalachicolae (Zentral) vor 3,2-8,9 Millionen Jahren während des späten Miozäns bis ins späte Pliozän lebte, während der letzte gemeinsame Vorfahre von M. temminckii, M. apalachicolae und M. suwanniensis vor 5-13,4 Millionen Jahren im mittleren Miozän bis zum frühen Pliozän existierte. Die Untersuchung des fossilen Materials des ausgestorbenen Taxons M. floridana wurde hingegen als eine große Chelydra (Schnappschildkröte) identifiziert. Unsere taxonomische Revision von Macrochelys hat Auswirkungen für das Erhaltungsmanagement in Florida, Georgia, und Alabama.

Suwannee-Geierschildkröte, Macrochelys suwanniensis, – © Travis M. Thomas
Suwannee-Geierschildkröte,
Macrochelys suwanniensis,
© Travis M. Thomas

Kommentar von H.-J. Bidmon

Nun kann man das als durchaus schönes Beispiel für das Vorkommen so genannter kryptischer Arten nehmen, denn die Unterschiede sind ja trotz der uns als lange zurückliegend erscheinenden Abspaltungsereignisse so gering, dass man bislang von nur einer Art ausging. In diesem Zusammenhang finde ich es auch gut, dass die Autoren anhand der Fossilfunde diese geschichtlichen Aspekte in ihre Beschreibung mit einbezogen haben. Insofern haben wir hier aber auch ein schönes Beispiel dafür, wie sich die Langzeitdynamik der Evolution auf die Arten auswirkt, denn wir können heute davon ausgehen, dass die Art M. temminckii in drei Rückzugsrefugien lebt, die von einem ehemals zusammenhängenden Verbreitungsgebiet übrig geblieben sind, ebenso wie das zum Beispiel auch für europäische Emys oder Kinosternon der Neuen Welt postuliert wurde (siehe Fritz et al. 2009, Ceballos & Iverson 2014). Auch habe ich bislang nie gehört, dass sich Geierschildkröten aus unterschiedlichen Flusssystemen trotz dieser uns als lang erscheinenden Trennung nicht mehr erfolgreich verpaaren könnten. Nein, sie können sich reproduzieren und viele solcher Nachzuchten müssten nach diesen heutigen Kriterien wohl als Hybriden eingestuft werden. Nun stehen wir aber wieder vor einem sich sicher schon etliche Male in der Erdgeschichte wiederholten Klimawandel mit prognostizierten Meeresspiegelanstiegen, die vielleicht oder gar sehr wahrscheinlich auch Flusssysteme betreffen dürften, zwischen denen sich ehemalige Verbindungen wieder ergeben könnten (siehe auch Kommentar zu Boero 2010). Hier würde dann eine Umweltveränderung eine historisch verlorengegangene Konnektivität wieder herstellen und wenn wir bis dahin diese nun drei Arten von Macrochelys nicht ausgerottet haben sollten, könnten sie sich auch wieder vereinigen. Hier handelt es sich um evolutive Langzeitdynamiken, die eigentlich mit der Beschreibung der von uns abstrakt definierten Arten nichts zu tun haben. Denn entweder müssten bei steigenden Meeresspiegel unsere Nachkommen Zäune zwischen diesen Flusssystemen ziehen oder die drei angeblichen Arten würden hybridisieren und verschmelzen und sich irgendwann wieder in neue andere „Arten“ auftrennen. Letzteres logisches gedankliches Langzeitszenario zeigt uns doch sehr schön, was unsere Arterhaltung oder besser gesagt Artenkonservierung, wie wir sie im klassischen Sinne bislang betrieben haben und betreiben, einbringt – nämlich die Erkenntnis, dass sich Arten nur konserviert im Museum erhalten lassen. Aus Sicht des Naturschutzes kann es nur um Evolutionslinienerhaltung gehen, mit dem Bewusstsein, dass sich auch die ändern werden. In diesem Zusammenhang ist erst jüngst eine interessante Arbeit erschienen, die uns eigentlich noch etwas klarmachen sollte, das wir unter dem Aspekt der Art- und Biodiversitätserhaltung oft unberücksichtigt lassen, nämlich die eigentliche synökologische Betrachtung von Lebensgemeinschaften und deren Erhalt und weniger die Prioritätensetzung auf eine oder wenige Arten (Pouzols et al. 2014, Rohr et al. 2014, Seehausen et al. 2014, Anon 2014 das Nature Editorial). Letztere Arbeit zeigt nämlich sehr schön, dass es zwar unter bestimmten Umständen wie zum Beispiel auf Agrarflächen und bei Überdüngung zu einem Artenrückgang und einem Biodiversitätsverlust kommt, dass es aber ansonsten meist nur zu einer Verschiebung der Arten und Artenvielfalt kommt, da die Gebiete, in denen eine Lebensgemeinschaft sich nicht mehr erhalten kann, sich eine neue entwickelt oder Einzug hält, die genauso artenreich oder gar artenreicher sein kann als jene, die dort vor Ort verschwunden ist. Wir sollten langsam beginnen, diese Langzeitdynamiken zu sehen und danach zu handeln, als immer weiter nur den abstrakten Prioritätenlisten und Biodiversität-Hotspot-Theorien nachzulaufen.

Literatur

Anon (2014): Editotial. Protect and serve: Nations must keep expanding conservation efforts to avoid a biodiversity crisis. – Nature 516: 144.

Boero, F. (2010): The Study of Species in the Era of Biodiversity – A Tale of Stupidity. – Diversity 2(1): 115-126 oder Abstract-Archiv.

Ceballos, C. P. & J. B. Iverson (2014): Patterns of sexual size dimorphism in Chelonia: revisiting Kinosternidae. – Biological Journal of the Linnean Society 111(4): 806-809 oder Abstract-Archiv.

Fritz, U., D. Ayaz, A. K. Hundsdoerfer, T. Kotenko, D. Guicking, M. Wink, C. V. Tok, K. Cicek & J. Buschbom (2009): Mitochondrial diversity of European pond turtles (Emys orbicularis) in Anatolia and the Ponto-Caspian Region: Multiple old refuges, hotspot of extant diversification and critically endangered endemics. – Organisms Diversity & Evolution 9(2): 100-114 oder Abstract-Archiv.

Pouzols, F. M., T. Toivonen, E. Di Minin, A. Kukkala, P. Kullberg, J. Kuusterä, J. Lehtomäki, H. Tenkanen, P. H. Verburg & A. Moilanen (2014): Global protected area expansion is compromised by projected land-use and parochialism. – Nature 516: 383-386.

Rohr, R. P., S. Saavedra & J. Bascompte (2014): Ecological networks. On the structural stability of mutualistic systems. – Science 345 (6195): 1253497.

Seehausen, O., R. K. Butlin, I. Keller, C. E. Wagner, J. W. Boughman, P. A. Hohenlohe, C. L. Peichel, G. P. Saetre, C. Bank, A. Brännström, A. Brelsford, C. S. Clarkson, F. Eroukhmanoff, J. L. Feder, M. C. Fischer, A. D. Foote, P. Franchini, C. D. Jiggins, F. C. Jones, A. K. Lindholm, K. Lucek, M. E. Maan, D. A. Marques, S. H. Martin, B. Matthews, J. I. Meier, M. Möst, M. W. Nachman, E. Nonaka, D. J. Rennison, J. Schwarzer, E. T. Watson, A. M. Westram & A. Widmer (2014): Genomics and the origin of species, – Nature Reviews. Genetics 15(3): 176-192.

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