Zierschildkröte, Chrysemys picta, im Gartenteich – © Hans-Jürgen Bidmon

Roth - 2016 - 01

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Roth, T. C. II & A. R. Krochmal (2016): Cognition-centered conservation as a means of advancing integrative animal behavior. – Current Opinion in Behavioral Sciences 6: 1-6.

Die kognitionszentrierte Erhaltungsbiologie dient dazu das Verhalten der Tiere verstärkt zu berücksichtigen und zu integrieren.

DOI: 10.1016/j.cobeha.2015.05.008 ➚

Die Disziplin der Arterhaltungsbiologie hat kürzlich einen Paradigmenwandel erfahren und veränderte sich dahingehend, dass man erkannt hat, das Verhalten der Tiere konzeptionell im Rahmen der Biodiversitätserhaltung mit zu integrieren. Allerdings stellten wir fest, dass diese Integrationsbemühungen sehr einseitig vorgenommen wurden, typischer Weise mit dem Ziel die Erhaltungsresultate zu verbessern, wobei aber meist ignoriert wurde welche potentiellen Vorteile die Erhaltung auch für die Verhaltensbiologie an sich liefert. Wir prognostizieren, dass die Arterhaltung sehr starke Rahmenbedingungen liefert, innerhalb derer die Entstehung und Aufrechterhaltung bestimmter Verhaltensmuster studiert werden können. Ebenso liefert sie ein Forum dafür, die interdisziplinäre Natur von Tieren und deren kognitive Antwort in Bezug zum Umgang mit ihrer spezifischen Umwelt zu untersuchen. Mit dem Einbezug von wechselwarmen (ektothermen) Tieren als Modellorganismen und deren Verhalten ergibt sich für Verhaltensforscher die Chance neue Hypothesen herauszuarbeiten, bestehende Hypothesen mit neuartigen Ansätzen zu überprüfen und neue Wege der Zusammenarbeit zu gehen, die eine integrale Betrachtung der Verhaltensweisen von Tieren ermöglichen.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Dieses Abstract bezieht sich auf ein Einleitungseditorial zu einer Publikationsreihe über Kognition und Verhalten bei Tieren. Für viele wird sich dieses sehr allgemein abgefasste Abstract etwas schwer verständlich lesen, aber es wird hier ein relativ leicht verständlicher Aspekt der Verhaltensforschung und der Erhaltungsbiologie in den Mittelpunkt gerückt, den wir alle – die wir uns mit Tieren beschäftigen – intuitiv kennen. Was meinen die Autoren damit konkret? Sie verweisen darauf, dass bestimmte Tiere an ihre bestimmte – ich möchte fast sagen – individuelle Umwelt angepasst sind. Sicher ist das Wort individuell hier vielleicht zu streng gebraucht, aber ich würde es schon auf das Populationsniveau für die meisten Spezies eingrenzen wollen, denn auf Unterart- bzw. Artniveau würde das nur für solche gelten, die nur noch in einem einzigen Habitat vorkommen. Damit ist gemeint, dass unterschiedliche Populationen ein und derselben Art durchaus populationsspezifische Verhaltensanpassungen zeigen, die sie nur innerhalb ihres Lebensraums entwickelt haben, wie z.B. die von den Autoren untersuchte Zierschildkrötenpopulation (siehe Roth & Krochmal 2015), die aber bei Populationen die z. B. die Uferregion einer kleinen allseits von Wasser umgebenen Insel in einem großen See besiedeln nie ausgebildet werden, weil für letztere das austrocknen ihres Wohngewässers nie vorkommt und sie deshalb ihren eigentlichen Lebensraum nie verlassen müssen. Gleiches trifft wohl auch für Griechische Landschildkröten zu, denn auch für diese wird beschrieben, dass sie habitatspezifische Verhaltensplastizität zeigen (siehe Golubović et al. 2013, 2014). Ja und jeder wird sicher auch in der Tierhaltung schon die eine oder andere individuelle Verhaltensweise seiner Schildkröten innerhalb ihres spezifischen Geheges beobachtet haben, wie z. B. das alljährliche Aufsuchen eines ganz bestimmten Eiablageplatzes durch ein bestimmtes Weibchen. Für die Verhaltensforschung und Kognitionsforschung bietet sich dadurch die Möglichkeit die verschiedensten Kognitionsleistungen, die eine Tierart erbringen kann, zu untersuchen, in dem sie viele unterschiedliche Populationen ein und derselben Art, die unterschiedliche Lebensräume bewohnen, untersucht und mit einander vergleicht. Denn nur diese umfassende, integrale Betrachtung liefert ja das Gesamtergebnis, das zum Ausdruck bringen kann zu „was“ diese Art überhaupt fähig ist wenn es die Umwelt von ihr fordert. Genau diese Erkenntnisse liefern uns auch die notwendigen Informationen die wir bräuchten, um einschätzen zu können wie sich z. B. der Klimawandel für die betroffene Art insgesamt auswirken würde und wie hoch ihr Anpassungspotential durch Verhaltensplastizität ist. Das sind auch die Informationen die man braucht, um sie in bestimmte Computermodelle einzufügen, um solche Szenarien zu simulieren und zu prognostizieren. In Bezug auf die Erhaltungsbiologie liefern die Autoren eigentlich sehr starke Argumente dafür, dass eben nicht nur Arten erhaltenswürdig sind (ein aus meiner Sicht Pseudoargument vieler Taxonomen die da behaupten, dass eben die Aufspaltung einer Art in mehrere dazu beiträgt den Schutz auf Arterhaltungsniveau zu forcieren), sondern eben auch Populationen ein und derselben Art die unterschiedliche Lebensräume besiedeln, da man nur dadurch die Möglichkeit hat umfassende integrale Verhaltens- und Kognitionsforschung zu betreiben und zu entsprechenden Ergebnissen zu kommen. Insofern spricht mir diese Arbeit durchaus aus dem Herzen, denn den Schutz von Populationen habe ich schon seit längerem angesprochen (siehe Kommentar zu Renner 2016, Turkozan et al. 2010). Wenn wir das mal auf das Studium der Kognitionsfähigkeit und Intelligenz beim Menschen übertragen würden, können wir auch nicht durch die alleinige Betrachtung einer bestimmten Berufsgruppe auf die kognitive Gesamtleistungsfähigkeit einer Gesellschaft oder gar der Menschheit als Ganzes zu schließen. Auch hier brauchen wir die integrale Betrachtung der Vielfalt um zu einer einigermaßen sinnvollen Einschätzung zu gelangen, denn nicht umsonst unterscheiden wir in vielen Bereichen zwischen einer sprachlichen (vielleicht auch abstrakten) und einer praktischen Intelligenz in Bezug auf den IQ.

Literatur

Golubović, A., X. Bonnet, S. Djordjevic, M. Djurakic & L. Tomovic (2013): Variations in righting behaviour across Hermann's tortoise populations. – Journal of Zoology 291(1): 69-75 oder Abstract-Archiv.

Bidmon, H.-J. (2014): Kommentar zu: Golubović, A., M. Andjelkovic, D. Arsovski, A. Vujovic, V. Ikovic, S. Djordjevic & L. Tomovic (2014): Skills or strength-how tortoises cope with dense vegetation? – Acta Ethologica 17(3): 141-147 oder Abstract-Archiv.

Renner, S. S. (2016): A Return to Linnaeus's Focus on Diagnosis, Not Description: The Use of DNA Characters in the Formal Naming of Species. – Systematic Biology 65(6): 1085-1095 oder Abstract-Archiv.

Roth, T. C. II & A. R. Krochmal (2015): The Role of Age-Specific Learning and Experience for Turtles Navigating a Changing Landscape. – Current Biology 25(3): 333-337 oder Abstract-Archiv.

Turkozan, O., F. Kiremit, J. F. Parham, K. Olgun & E. Taskavak (2010): A quantitative reassessment of morphology-based taxonomic schemes for Turkish tortoises (Testudo graeca). – Amphibia-Reptilia 31(1): 69-83 oder Abstract-Archiv.