Lintner - 2012 - 01

Lintner, M., A. Weissenbacher & E. Heiss (2012): The Oropharyngeal Morphology in the Semiaquatic Giant Asian Pond Turtle, Heosemys grandis, and Its Evolutionary Implications. – PLOS ONE 7(9): e46344.

Die Mund-Schlund-Morphologie bei der semiaquatischen, asiatischen Riesen-Erdschildkröte, Heosemys grandis und ihre evolutionäre Bedeutung.

DOI: 10.1371/journal.pone.0046344 ➚

Der Oropharynx (Mundrachenraum) bildet eine funktionelle Einheit und ist von fundamentaler Bedeutung für die Nahrungsaufnahme. Der Wechsel von einer aquatischen zu einer terrestrischen Lebensweise bei Wirbeltieren erfordert wesentliche Veränderungen im Mundrachenraum als Anpassung an eine durch die Umwelt bedingte andere Form der Nahrungsaufnahme. Bei heutigen Schildkröten erfolgte die Evolution zur terrestrischen Nahrungsaufnahme unabhängig bei drei Familien (Testudinidae, Emydidae, Geoemydidae) und unabhängig von den anderen Amnioten. Deshalb sind Schildkröten wichtige Modellorganismen für die Rekonstruktion dieser morphologisch-funktionellen Anpassungen, die diesem aquatisch-terrestrischen Wechsel zugrunde liegen. Für diese Studie stellten wir die Hypothese auf, dass die Morphologie des Mundrachenraums der semiaquatischen Schildkröten aus der Familie der Geoemydidae Parallelen zu den Testudinidae aufweist, wobei letztere die einzige gänzlich terrestrische Linie repräsentieren. Wir liefern eine eingehende detaillierte Beschreibung des Mundrachenraums für die semiaquatische, geoemydide Heosemys grandis unter Anwendung einer Kombination aus Mikrocomputertomographie (micro-CT) und anschließender digitaler In situ 3-D Rekonstruktion, Rasterelektronenmikroskopie und Histologie. Wir zeigen, dass H. grandis eine große Zunge mit rauen Papillen an der Oberfläche besitzt und eine gut entwickelte Zungenmuskulatur ausgebildet hat. Die Ansätze der Zungenmuskulatur am Zungenbeinskelett und ihr Verlauf innerhalb der Zunge sind nahezu identisch zu jenem der Testudinidae. Das Zungenbeinskelett selbst besteht überwiegend aus Knorpel und zeigt distinkte – aber im Vergleich zu den Testudinidae – eher kleine, vordere Auswüchse am Hyoidkörper und am Hypoglossum. Die Drüsen der Mundhöhle sind bei H. grandis gut entwickelt, aber kleiner und einfacher gebaut als bei den Testudinidae. Dazu vergleichbar kommt es nur zu einer minimalen Verhornung im Mundrachenraum, die nur am vorderen Gaumen und den nahe der Mundspitze liegenden Regionen sowie an der Zungenspitze auftritt. Wir schließen daraus, dass H. grandis distinkte Anpassungen im funktionellen Mundrachenraum aufweist, die charakteristisch für einen terrestrischen Lebensstil sind, wobei sich aber Charakteristika der typischen aquatischen Form erhalten haben. Dies macht die Spezies zu einem wichtigen Beispiel dafür, wie die dem aquatisch-terrestrischem Wechsel zugrunde liegenden oropharyngealen Anpassungen bei Schildkröten abgelaufen sind.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Nun liefert diese Gruppe ja ständig Beschreibungen zur Morphologie des Mundrachenraums von verschiedensten Schildkröten (siehe Abstract-Archiv). Allerdings fällt mir hier die Tatsache auf, dass die Mundrachenraummorphologie nicht nur unter dem Aspekt der evolutiven Anpassung an einen neuen, mehr terrestrischen Lebensraum zu verstehen ist, sondern auch im Wesentlichen von der genutzten Nahrung der betreffenden Spezies mit bedingt wird. Insofern wäre hier neben dem Vergleich von Evolutionslinien innerhalb der Schildkröten zumindest auch ein Vergleich von herbivoren und karnivoren etc. Vertretern notwendig, um die morphologischen Anpassungen auch wirklich auf funktionelle Anpassungen und Notwendigkeiten zurückführen zu können. Denn letztendlich haben die Autoren schon Recht, wenn sie einleitend den Mundrachenraum als essentielle Funktionseinheit betrachten, allerdings bedingt das auch, dass er als Ganzes funktionieren muss und nur die Vertreter überleben, bei denen diese Funktionseinheit auch schon ursprünglich so funktionell war, dass sie ihre Nahrung erfolgreich aufnehmen konnten. Insofern dürfte hier eine graduelle langsame Anpassung gar nicht so sehr im Vordergrund stehen, andernfalls müsste man den Untersuchungsansatz einer anderen Fragestellung unterordnen, nämlich der einer Koevolution von Nahrung und Nahrungsnutzer.