Arrauschildkröte, Podocnemis expansa, ein Schlüpfling – © Camila R. Ferrara

Ferrara - 2013 - 01

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Ferrara, C. R., R. C. Vogt & R. S. Sousa-Lima (2013): Turtle Vocalizations as the First Evidence of Posthatching Parental Care in Chelonians. – Journal of Comparative Psychology 127(1): 24-32

Schildkrötenvokalisation als Erstnachweis einer elterlichen Fürsorge nach dem Schupf bei Schildkröten.

DOI: 10.1037/a0029656 ➚

Arrauschildkröte, Podocnemis expansa, – © Mario Herz
Arrauschildkröte,
Podocnemis expansa,
ein Schlüpfling
© Mario Herz

Bis vor kurzem galten Wasserschildkröten als stille Reptilien, die weder Kommunikationslaute produzieren, noch ein gutes Hörvermögen besitzen. Wir zeichneten die Geräusche von Individuen im natürlichen Habitat, in Gefangenschaftshaltung und während der Interaktionen zwischen Schlüpflingen und Adulten auf, und können damit zeigen, dass Schlüpflinge und Adulti von Podocnemis expansa sowohl im Wasser als auch außerhalb des Wassers Laute produzieren. Die Laute wurden von Schlüpflingen, die noch im geschlossenen Ei waren, in schon geöffneten Nestern, im Fluss und unter den Bedingungen einer Haltung in menschlicher Obhut ausgestoßen. Adulte Weibchen produzierten ihre Laute im Fluss während des Sonnenbadens, während der Nistaktivität und auch in Gefangenschaftshaltung. Es wurden im Fluss Aufzeichnungen gemacht, während sie mit Jungtieren zusammentreffen, die zeigen, dass sie auf die Rufe der Jungen reagieren. Wir zeichneten 2.122 Laute auf, die wir in 11 unterschiedliche Typen klassifizierten. Diese Daten legen nahe, dass es zwischen Adulten und Schlüpflingen eine Lautkommunikation gibt, und sie belegen, dass die Laute dazu dienen, die Jungen um sich zu sammeln, um bestimmte Massenwanderungen durchzuführen. Es konnte gezeigt werden, dass mit Transmittern bestückte Weibchen zusammen mit den Schlüpflingen wandern. Wir interpretieren diese Daten dahingehend, dass erstmals für Schildkröten eine akustische Kommunikation nachgewiesen werden konnte, die einer elterlichen Fürsorge nach dem Schlupf der Nachkommen dient. Wir gehen davon aus, dass unsere Befunde dazu beitragen, die Methoden zu verändern, mit denen wir Schildkrötenverhalten studieren und interpretieren, und zusätzlich postulieren wir, dass Kommunikations- und Geräuschverschmutzung (Schallsmog) ein wichtige Aspekte für die Schildkrötenerhaltungsbiologie darstellen.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Hier handelt es sich um eine wirklich neue und weitreichende Erkenntnis, die für die Beurteilung des Sozialverhaltens bei Schildkröten einen wissenschaftlichen Quantensprung darstellt sowie Maßstäbe für Forschungsarbeit setzt. Gehen wir vorerst etwas detaillierter auf den Inhalt ein, wo einleitend erst einmal angeführt wird, was über Lautäußerungen bei den bislang daraufhin untersuchten 38 (es sind schon 40) Schildkrötenspezies bekannt ist (z. B. Giles et al. 2009). Auch die bislang beschriebenen elterlichen Fürsorgestrategien bei Schildkröten, die sich meist auf die Phase vor dem Schlupf beziehen, werden erörtert (z. B. Nestverteidigung: Manouria emys, Kuchling 1998; Gopherus agassizii, Barret & Humphrey 1986). Zudem wird das Verbreitungsgebiet von Podocnemis expansa beschrieben sowie die unterschiedlichen Jahreszeiten, zu denen die Populationen in den jeweiligen Nebenflüssen des Amazonas zur Eiablage schreiten, was immerhin mehrere Monate auseinanderliegen kann und von den Wasserständen in den jeweiligen Flusssystemen abhängt. Ebenso wird das Verhalten der adulten Weibchen beschrieben, die sich Wochen vor der Ablage an den Nistsandbänken versammeln, dann gemeinsam ablegen und anschließend bis zu zwei Monate im tieferen Wasser vor den Nistsandbänken verbleiben, ehe sie mit dem neuen Hochwasser wieder abwandern, zu dessen Zeit auch der Schlupf stattfindet. Diese spezielle Studie wurde am Trombetas-Fluss durchgeführt, ein Klarwasserfluss, in dem die dort ansässige Population schon seit 1989 von einer der Autorinnen untersucht wird. Hier wird auch klar, welchen Nutzen die heute immer seltener werdenden Langzeituntersuchungen für die Forschung in freier Wildbahn haben. Denn ich denke, dass die jahrelang gesammelten Erkenntnisse über die Wanderrouten der Schildkröten es überhaupt ermöglichten, die Hydrophone so zu platzieren, dass man die Laute ziehender Schildkrötengruppen aus Weibchen und Schlüpflingen aufzeichnen konnte.
Kommen wir zu den Fakten, die da belegen, dass die Schlüpflinge etwa 36 Stunden vor dem Schlupf mit dem Rufen beginnen, und die Weibchen auf diese Rufe reagieren, um sich vor den Nistbänken mit den Jungen zu vereinen. Wie sieht so eine Vereinigung aus? Nun dies wurde in der Gefangenschaftshaltung genauer untersucht, wo man bis zu 140 Schlüpflinge zu einem Weibchen in ein Becken setzte, um die Kommunikation und das Verhalten zu analysieren. Dabei zeigte sich auch, dass es hier zu einer sozialen Interaktion kommt, denn die Kleinen schwimmen nicht nur mit dem Weibchen, nein, sie suchen aktiv die Nähe des Weibchens und bleiben dicht am Körper oder nutzen wenn möglich jede Carapaxöffnung wie Achselhöhlen, um dort eine Nische zu finden. Dieses Verhalten deuten die Autoren als Schutz vor Fressfeinden während der Wanderung. Diese Beschreibung hat mich schon etwas an das erinnert, was man sich in etlichen Tierfilmen über Walmütter ansehen kann, deren Junge ja auch möglichst dicht am Körper der Mutter von den südlichen Geburtsstätten zu den Nahrungsgründen im Nordmeer ziehen. Hätten Sie so viel soziale Kommunikation und Interaktion bei Schildkröten erwartet? Nun, wie Sie sehen hat Biotopanpassung vielmehr mit Überlebensstrategie zu tun als mit abstrakter taxonomischer Stellung oder phylogenetischer Einordnung (siehe Diskussion, Bidmon 2012). Zum Schluss sei noch die rein hypothetische Frage erlaubt, wenn Primatenforscher die Kommunikationslaute z.B. von Schimpansen als Sprache oder sprachähnlich deuten, wie soll man dann ein Lautrepertoire von 2.122 Lauten bei
Podocnemis expansa interpretieren? Sie werden hoffentlich als soziales Wesen pro Tag mehr als 2.122 Worte von sich geben, aber überlegen sie mal ob es sich dabei auch um 2.122 unterschiedliche Worte handeln würde. Ich denke, daran kann man gut abschätzen, welche Kommunikationsmöglichkeiten sich mit einem solchen Lautrepertoire ergeben können.

Literatur

Barrent, S. L. & J. A. Humphery (1986): Agonistic interactions between Gopherus agassizzi (Testudinidae) and Heloderma suspectrum (Helodermatidae). – Southwestern Naturalist 31: 261-263.

Bidmon, H.-J. (2012): Hamiltons Gesetz, Selektion nach dem Verwandtschaftsgrad oder gar altruistisches Verhalten bei Spaltenschildkröten? – Schildkröten im Fokus 9(2): 3-26 oder Abstract-Archiv.

Giles, J. C., J. A. Davis, R. D. McCauley & G. Kuchling (2009): Voice of the turtle: the underwater acoustic repertoire of the long-necked freshwater turtle, Chelodina oblonga. – The Journal of the Acoustical Society of America 126(1): 434-443 oder Abstract-Archiv.

Kuchling, G. (1998): The reproductive Biology of the Chelonia. – Berlin (Springer–Verlag), 234 S.

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